Entwicklungshilfe-Bashing ist zur Mode geworden. Es gibt gute Gründe, Sinn und Unsinn der Entwicklungszusammenarbeit zu thematisieren. Ist die vielzitierte Finanzierung von Fahrradwegen in Peru von Nutzen für das Land (und den Geber) oder ein Paradebeispiel für Geldverschwendung? In Deutschland waren 2023 rund 17,7 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht – 21,2 % der Bevölkerung. Macht es da Sinn, Milliardensummen an fremde Länder zu vergeben? Derzeit werden die Hilfe-Budgets drastisch gekürzt. Wir wollen zeigen, dass Entwicklungszusammenarbeit trotz berechtigter Kritik für Geber und Empfänger nützlich sein kann.
Beginnen wir mit Grundsätzlichem. Entwicklungszusammenarbeit ist quasi das freundliche Gesicht des Geberlandes. Entwicklungshilfe war nie selbstlos. 1989 habe ich eine Artikelserie von Wolfgang Sachs redigiert, der damals an der Pennsylvania State University lehrte. Sie trug den Titel «Zur Archäologie der Entwicklungsidee». Sachs schildert darin, wie US-Präsident Harry S. Truman in seiner Inaugurationsrede am 20. Januar 1949 den größten Teil der Welt zu «unterentwickelten Gebieten» erklärte:
«Zum ersten Mal wurde damit von prominenter politischer Bühne die neue Weltsicht verkündet, nach der die Völker der Erde sich auf einer gemeinsamen Bahn bewegen und in ihren Aspirationen auf ein Ziel hin konvergieren: das der ‹Entwicklung›. Wohin der Weg führen sollte, stand dem Präsidenten deutlich vor Augen: ‹Größere Produktion ist der Schlüssel zu Wohlstand und Frieden›.»
Damit verbunden war aber auch eine zivilisatorische Mission, so Sachs: «‹zivilisatorischen Fortschritt› in ‹wirtschaftliche Mobilisierung› aufgehen zu lassen und ‹Entwicklung› als Leitbegriff zu inthronisieren». Die westliche Hegemonie war inbegriffen: «Entwicklung ohne Vorherrschaft ist wie ein Wettlauf ohne Richtung; deshalb war mit der Ausrufung der ‹Entwicklung› die Hegemonie des Westens logisch eingeschlossen.»
Wolfgang Sachs beschrieb das Zwischenergebnis dieses Weltlaufs 40 Jahre nach der Rede Trumans als «Aufholjagd des Südens gegenüber dem Norden, an deren Ende nicht nur das Feld weiter auseinandergefallen ist und eine Anzahl von Läufern aus der Bahn getorkelt sind, sondern es allen zu dämmern beginnt, dass sie vielleicht gar in die falsche Richtung laufen».
DIE SCHLEICHENDE KLIMAKATASTROPHE: WOHIN «ENTWICKELN?»
Zwei Faktoren haben die Debatte über Entwicklungspolitik in jüngster Zeit neu entfacht: Die derzeit stattfindende Auflösung der US-Entwicklungsbehörde USAID und die drastischen Kürzungen der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland, aber auch in Ländern wie Frankreich oder dem Vereinigten Königreich.

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Über einen dritten Problemkreis wird fast überhaupt nicht diskutiert: Dass die sich rasant beschleunigende Klimakrise eine nachholende oder nachhaltige Entwicklung kaum mehr zulässt, wenn die Menschheit auf diesem Planeten überleben will.
Das Umtaufen des Begriffs in «nachhaltige Entwicklung» hilft nicht weiter. In einem Wirtschaftssystem, das ohne ständiges Wachstum nicht überleben kann, werden auch dann immer mehr Ressourcen verbraucht, wenn man das Wachstum «grün» nennt. Wenn Alle so viel Auto fahren, so viel konsumieren, so viel unnütze Waren und so viel Müll produzieren würden wie der «freie Westen», wären wir schnell am Ende.
Dennoch wird in jeder Talkshow, in jedem Wirtschaftsmagazin und in jedem politischen Strategiepapier mehr Wachstum gefordert. Wenn dieses System, das längst von global agierenden Spekulanten (euphemistisch «Investoren» oder «Märkte» genannt) und monopolistischen Konzernen dominiert wird, nicht reformiert werden kann – und die Machtverhältnisse sprechen klar gegen grundlegende Reformen -, wird die Regenerationsfähigkeit der Erde über kurz oder lang überstrapaziert sein. Dann gibt es nichts mehr, wohin sich sogenannte «Entwicklungsländer» entwickeln könnten.
DIE BEFÜRWORTER DER EZ NEHMEN SEIT JAHREN AB
Das Deutsche Evaluierungsinstitut der Entwicklungszusammenarbeit (DEval) hat in seinem «Meinungsmonitor Entwicklungspolitik 2024» festgehalten, dass die Unterstützung für Entwicklungszusammenarbeit (EZ) seit Anfang 2022 rückläufig ist. «Nur 47 Prozent der Befragten befürworteten im Januar 2024 gleichbleibende oder erhöhte EZ-Ausgaben – ein Rückgang um 21 Prozentpunkte. DEval sieht als eine Ursache für die «zunehmende Verknüpfung von EZ und geo- beziehungsweise sicherheitspolitischen Aspekten» vor dem Hintergrund aktueller Krisen und Konflikte. Allerdings fühlen sich nur 34 Prozent zum Themenfeld Entwicklungspolitik gut informiert.
2016 gab Deutschland umgerechnet 24,7 Milliarden US-Dollar für «Official Development Assistance (ODA) aus und erreichte damit erstmals die seit 1970 von den Vereinten Nationen geforderte Marke von 0,7 % des Bruttonationaleinkommens. Doch die Bundesregierung erfüllte diese internationale Zielvorgabe nur, weil sie die anfallenden Kosten für die Unterbringung von Flüchtlingen einrechnete. Diese machten 2016 ein Viertel (25,2 %) der gesamten deutschen Entwicklungsleistungen aus.
Durchschnittlich 22 % der weltweiten Entwicklungshilfe wurde 2023 im eigenen Land ausgegeben. Je nach Geberland gibt es aber große Unterschiede.
In diesem Jahr wird das 0,7 %-Ziel krachend verfehlt werden, obwohl die im Inland investierten und auf die ODA angerechneten Summen stark angestiegen sind.

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HAT DIE ENTWICKLUNGSPOLITIK VERSAGT?
2024 belief sich die gesamte Entwicklungshilfe der OECD, (d.h. der westlich orientierten Industriestaaten) auf 212,1 Mrd. US-Dollar. Das entspricht im Schnitt 0,33 % des Bruttonationaleinkommens (BNE). Nur 16,1 % ging an die Länder mit geringem Einkommen.
Fakt ist: Die öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) allein kann die Welt nicht retten. Mit Geld allein ist es nicht getan. Aber ohne Humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit wären arme Länder noch viel schlechter dran. Sicher gibt es jede Menge Korruption in den Empfängerländern. Aber bei uns gibt es sie auch, nur smarter. Allein der Schaden für den deutschen Steuerzahler durch den Cum-Ex-Skandal, verursacht durch kriminell agierende Banken und naive Gesetzgeber, beläuft sich auf mindestens 55 Milliarden Euro. Das ist fast die Summe, die ganz Afrika 2023 an Entwicklungshilfen erhalten hat (61 Mrd. US$).
«Entwicklungszusammenarbeit ist mehr als nur finanzielle Unterstützung», sagt der Hamburger Entwicklungsexperte Karsten Weitzenegger. «Sie ist ein Ausdruck globaler Solidarität und ein Instrument zur Förderung von Frieden, Stabilität und Wohlstand weltweit. Durch gezielte Projekte und Programme trägt die EZ zur Bekämpfung von Armut, Hunger und Ungleichheit bei. Sie unterstützt den Aufbau von Infrastruktur, Bildungssystemen und Gesundheitseinrichtungen in den ärmsten Regionen der Welt.»
Und sie beugt Migration vor und repariert, was Staaten an anderer Stelle an Ausbeutung anrichten. Nur ein Beispiel: Europäische und chinesische Fischfang-Flotten fischen seit langem die Küsten Westafrikas leer. Den einheimischen Fischern, die nicht über Hochsee-taugliche Boote verfügen, bleibt oft nur der Weg, ihre Söhne mit den Booten übers Mittelmeer nach Europa zu schicken, in der Hoffnung, dass sie dort Arbeit finden und Geld nach Hause schicken können.
Die Entwicklungsorganisation ONE hat einige Beispiele aufgelistet, wie Entwicklungshilfe wirken kann:
- «Die weltweite Armut geht zurück: Seit 1990 ist die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, von knapp 2 Milliarden auf 692 Millionen gesunken – ein Rückgang von rund 65 Prozent.
- Die weltweite Kindersterblichkeit wurde halbiert.
- Polio wurde nahezu ausgerottet.
- Die HIV/Aids-Ausbreitung wurde gebremst.
- Tuberkulose & Malaria wurden zurückgedrängt.
- Viele Kinder können dank Entwicklungsinvestitionen überhaupt eine Schule besuchen, sogar solche, die von Krieg und bewaffneten Konflikten betroffen sind.
- Jeder investierte Euro zahlt sich aus: Ein Drittel der Mittel fließt durch Exporte zurück, sichert jährlich 88.000 Arbeitsplätze (in Deutschland) und steigert deutsche Warenexporte um jährlich 8,8 Milliarden US-Dollar.»
Betrachtet man die Netto-Finanzflüsse in Entwicklungsländer, ergibt sich ein anderes Bild der „Hilfe“. Zum einen sind die Summen, die durch Migranten zurück in die Länder des Südens fließen, weit höher als die gesamte ODA. Zum anderen bestehen die ODA-Zahlungen aus (nicht rückzahlbaren) Zuschüssen und (verbilligten) Krediten. Derzeit zahlen die Entwicklungsländer mehr an Zinsen und Tilgungen an den Norden zurück, als sie an neuen kommerziellen Krediten erhalten. (In der nachfolgenden Grafik sind die Kredite zu Vorzugsbedingungen nicht enthalten).

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Was dringend neu diskutiert werden müsste, sind Sinn und Zweck von Entwicklung auf einem Planeten, der mehr Entwicklung nicht mehr verkraften kann. Wohin sollen sich Länder entwickeln, wenn die Modelle nachholender und nachhaltiger Entwicklung nicht funktionieren? Müssen nicht vielmehr Staaten und multinationale Akteure, die die Ressourcen und Gemeingüter dieser Erde über alle Maßen und zu Lasten anderer ausplündern, gesundschrumpfen?
Letztlich geht es darum, als Menschen gemeinsam, solidarisch und einigermaßen friedlich miteinander zu leben und die Ressourcen, die uns noch bleiben, so gerecht und sparsam zu teilen, dass alle satt werden und niemand übervorteilt wird.
Noch ein Wort zur vielgeschmähten Unterstützung für die Fahrradwege in Peru: Deutschland und Peru haben 2022 die erste Klimapartnerschaft im Rahmen der EZ geschlossen. Niels Annen, Parlamentarischer Staatssekretär im Entwicklungsministerium, erklärte dazu:
„Deutschland und Peru haben ähnliche Probleme, was die Klimaziele im Verkehrssektor betrifft. In beiden Ländern zählt der Straßenverkehr zu den großen Verursachern von Treibhausgasen. In beiden Ländern geht es darum, Alternativen zum privaten PKW zu schaffen und attraktiv zu machen. Wir unterstützen peruanische Städte deshalb dabei, ein Netz aus Fahrradwegen und aus elektrisch betriebenen Schnellbussen aufzubauen. Bei unserem Dialog geht es auch darum, dass wir schauen, was wo funktioniert und was wir voneinander lernen können.“
Wer das kritisiert, vertritt bewusst oder unbewusst den altbackenen und paternalistischen Ansatz, Entwicklungszusammenarbeit sei Hilfe für Arme und „unterentwickelte“ Länder, die sich selbst nicht aus ihrer Misere befreien können oder wollen. Sozusagen die „Bürde des weißen Mannes„. Wir Überentwickelten sollten allmählich begreifen, dass wir von den Ländern lernen müssen, die mit wesentlich weniger Ressourcen und Konsumgütern auskommen. Ganz nach dem Motto des Verbandes der Entsendeorganisationen deutscher Entwicklungs-NGOs, das dieser schon in seinem Namen trägt: „Arbeitskreis Lernen und Helfen in Übersee„.
Klaus Boldt ist Herausgeber von Entwicklungspolitik Online. Er hat epo.de 1995 als erste deutschsprachige Online-Publikation gegründet. Die Website wird weder von staatlichen noch anderen Geldgebern finanziert. Sie können unabhängigen und kritischen Fachjournalismus unterstützen, indem Sie ein freiwilliges Abonnement abschließen.
Zum Weiterlesen:
- Thomas Bonschab / Robert Kappel / Stephan Klingebiel (Hrsg.): Deutsche Entwicklungspolitik in der Diskussion. Berlin, Bonn, Frankfurt 2025 (IDOS)
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