Burkhard Bläsi: Keine Zeit, kein Geld, kein Interesse?
Konstruktive Konfliktberichterstattung zwischen Anspruch und medialer Wirklichkeit, Berlin, 2006
Die in Buchform veröffentlichte Dissertation von Burkhard Bläsi befasst sich mit der Frage, inwieweit sich Modelle konstruktiver Konfliktberichterstattung mit der Wirklichkeit deutschsprachiger Nachrichtenmedien vereinbaren lassen.
Aus einer konstruktivistischen Perspektive setzt sich der Autor mit der Rolle von Medien in internationalen Konflikten auseinander, um dann auf der Grundlage eigener empirischer Befunde und der Analyse vorliegender Literatur ein Modell der Einflussfaktoren auf die Konfliktberichterstattung zu entwickeln. Die Einflussgrößen werden zu sechs Faktoren zusammengefasst und daraufhin untersucht, inwieweit sie Hindernisse für eine konstruktive Konfliktberichterstattung darstellen und welche Strategien geeignet sein könnten, diese Hindernisse zu überwinden. Abschließend werden die Befunde in Bezug auf unterschiedliche Konfliktphasen differenziert und es werden notwendige Maßnahmen für eine breitere Anwendung solcher friedensjournalistischer Konzepte beschrieben.
Der Autor nutzt die Methode der grounded theory. Ziel dieses sozialwissenschaftlichen Verfahrens ist es, realitätsnahe Theorien zu entwickeln und diese für die Praxis anwendbar zu machen. Dazu wird hier der Produktionsprozess von Konfliktberichterstattung einer planvollen Untersuchung unterzogen.
Journalistische Arbeit unterliegt zahlreichen Einflüssen. In der Literatur wird dabei zwischen akteursbedingten und systembedingten Faktoren unterschieden. Diese werden oft als gegensätzlich verstanden. Hier werden diese Faktoren als komplementär betrachtet. Auch innerhalb struktureller Vorgaben gibt es individuelle Freiräume und Verantwortung. Deshalb steht hier die Person des Journalisten im Mittelpunkt und die Frage, wie er diese Freiräume für eine konstruktive Konfliktberichterstattung nutzen kann.
Die Datenerhebung erfolgte durch Interviews. Zwischen 1996 und 2003 entstanden 30 Interviews und fünf schriftliche Befragungen deutschsprachiger Journalisten, die Erfahrungen in der Krisen- und Konfliktberichterstattung haben. Sie repräsentieren ein breites Spektrum der deutschen Medienlandschaft, von FAZ bis taz, von ARD bis n-tv. Über die Analyse der Interviews wird versucht, individuellen Merkmalen von Konfliktberichterstattern auf die Spur zu kommen. Ihr Verständnis der eigenen Rolle, ihr Verhältnis zu den Themen Objektivität, Neutralität, Parteilichkeit und anderes wird bestimmt. Und es wird erhoben, ob sie mit ihrer Arbeit ein bestimmtes Anliegen verfolgen. Die Befunde werden dann im Hinblick auf konstruktive Konfliktberichterstattung diskutiert. Das ergibt Hinweise auf die Probleme einer konstruktiven Konfliktberichterstattung die im journalistischen Rollenverständnis begründet sind.
Leider erfährt der Leser nur häppchenweise in kurzen Zitaten, was die Befragten sagen als Beleg für einzelne Befunde. Ein Anhang mit etwas umfangreicheren Passagen der Interviews wäre sicher eine interessante Lektüre, nicht nur wegen der Prominenz einzelner Gesprächspartner, darunter Renate Flottau (Spiegel), Sonia Mikich und Christoph Maria Fröhder (beide ARD). Das würde dann auch dem Leser eine genauere Differenzierung erlauben, als die vom Autor vorgenommene Klassifizierung in Journalisten „mit (explizitem) Anliegen und solche ohne (explizites) Anliegen“.
Neu ist das Modell der „Klimazonen“, das der Autor einführt um die Einflussfaktoren auf Journalisten zu verdeutlichen und zu kategorisieren. Die Faktoren „Menge politischer Aktivitäten, Menge an Berichterstattung und die Art des politische Diskurses (emotional, polarisiert, sachorientiert, rational) werden in Beziehung gesetzt zur Wahrscheinlichkeit negativer Konsequenzen für Abweichler. In Klimazone I ist der politische Diskurs zu einem bestimmten Thema hoch emotional und polarisiert, es gibt ein enormes Maß an politischen Aktivitäten und an Berichterstattung. In diesem Klima ist die Wahrscheinlichkeit negativer Sanktionen für abweichendes Verhalten sehr hoch. In Klimazone VII wird zu einem Thema im politischen Raum mäßig agiert, es gibt so gut wie keine Berichterstattung und auch keinen politischen Diskurs. Dann müssen Journalisten nach diesem Modell keine Sanktionen für abweichendes Verhalten fürchten. Irgendwo dazwischen öffnen sich die Fenster des individuellen Handelns. Die Klimazonen folgen klassischen Eskalationsschemata aus der Konfliktforschung und entsprechen dem auch in den festgestellten Sanktionen, die als Marginalisierung beschrieben werden. Durch Diffamierung kann sie bis zur totalen Ausgrenzung führen.
Besonders spannend wird es, wenn der Autor Gegenstrategien entwirft. Dabei wird unterschieden zwischen „Coping Strategien“, also der Umgang mit nicht veränderbaren Rahmenbedingungen, oder „Changing Strategies“, die auf Veränderung intervenierender Rahmenbedingungen zielen. Dazu werden die relevanten Akteure identifiziert (Change Agents). Als solche werden neben den Journalisten auch Verleger, Ausbildungsinstitutionen, Rezipienten und relevante gesellschaftliche Gruppen benannt.
Beispielsweise kann das Problem des Zeit- und Platzmangels von den Verantwortlichen durch mehr Sendezeit oder Druckseiten gelöst werden (Changing). Wo das nicht geht, sind kreative Strategien gefragt, um Interesse zu wecken und Darstellungsraum zu gewinnen („Coping“).
Die journalistischen Auswahl- und Verarbeitungsprozesse können auf Deeskalation und kreative Konfliktbearbeitung ausgerichtet werden, z.B. durch Neubestimmung von Nachrichtenfaktoren (changing). Oder die klassischen Nachrichtenfaktoren werden für konstruktive Konfliktberichterstattung instrumentalisiert (coping). Damit kommt man allerdings in bedenkliche Nähe zur PR, die sich genau dieser Methode bedient.
Ausbildungsstätten sollten ihre Curricula auf die spezielle Kompetenz der Konfliktberichterstattung ausrichten. Niemand käme auf die Idee, jemanden von einem Baseballspiel berichten zu lassen, der die Spielregeln nicht kennt. Mit diesem Beispiel verdeutlicht der Autor, wie wichtig es für eine konstruktive Konfliktberichterstattung ist, Grundlagen der Konfliktforschung zu beherrschen. Außerdem zeigt er auf, welches sozialpsychologische Grundlagenwissen, z.B. zur Kommunikation in Konflikten, für Journalisten bedeutsam ist.
Rezipienten haben Einfluss auf die Gestaltung des „Klimas“. Das oft unterschätzte Medium „Leserbrief“ spielt dabei eine große Rolle. Positive Rückmeldungen zählen zu den wichtigen immateriellen Anreizen, die eine konstruktive Konfliktberichterstattung attraktiver machen können, genau wie attraktive Recherchereisen oder spezifische friedensjournalistische Preise und Auszeichnungen.
Detailliert ist im Anhang das methodische Vorgehen dokumentiert. Dabei werden die Probleme des gewählten Vorgehens nicht ausgespart. Besonders relevant scheint mir dabei das Wissen um die soziale Erwünschtheit von Antworten in solchen Interviews. Es wäre ausgesprochen interessant zu erfahren, ob sich das in den Interviews offenbarte Reflexionsniveau der Journalisten in ihren Publikationen spiegelt. Dass es einen erheblichen Widerspruch zwischen den Angaben von Journalisten über die Wirkung von PR und der Realität gibt, hat etwa zeitgleich eine Studie der Uni Leipzig aufgedeckt.
Die vorliegende Studie gibt auf unterschiedlichen Ebenen wertvolle Hinweise aus sozialpsychologischer Sicht, wie konfliktsensitiver Journalismus gefördert werden kann. Umfangreiche Tabellen, die sich die Leser allerdings weitgehend selber erarbeiten müssen, bieten ein gutes Handwerkzeug für alle, die Interesse an konstruktiver Konfliktberichterstattung haben und die mehr Zeit investieren möchten. Dass sie damit allerdings Geld verdienen können, das bleibt auch nach dieser Studie eine ferne Hoffnung.
Keine Zeit, kein Geld, kein Interesse?
Konstruktive Konfliktberichterstattung zwischen Anspruch und medialer Wirklichkeit.
„Friedens- und Demokratiepsychologie“, Band 3
Burkhard Bläsi, 325 Seiten, verlag irena regener Berlin, 2006,
ISBN 3-936014-07-8
Martin Zint