
Die Studie basiert auf einer Erhebung der persönlichen Erfahrungen, Bedürfnisse, Besorgnisse, Erwartungen und Frustrationen von konfliktbetroffenen Menschen in acht Ländern: Afghanistan, Demokratische Republik Kongo, Georgien, Haiti, Kolumbien, Libanon, Liberia und Philippinen. Von den unmittelbar von den Feindseligkeiten Betroffenen sagten 56 Prozent, sie seien durch das Kampfgeschehen vertrieben worden, und fast die Hälfte, sie hätten den Kontakt mit einem ihrer Angehörigen verloren. Eine von fünf Personen erklärte, ihren Lebensunterhalt verloren zu haben.

„ÄUSSERST BEUNRUHIGEND“
„Neu an diesem Forschungsbericht ist die Tatsache, dass er uns einen umfassenderen Überblick gibt, wie die Opfer von Konflikten und Gewalt allüberall betroffen sind“, sagte Pierre Krähenbühl, Direktor des IKRK für Operationen. „Diese Zahlen stehen für Millionen von Menschen, die mit grosser Mühe ihre Kinder versorgen, die unter Bedrohungen aus ihren Dörfern fliehen mussten, oder die in ständiger Angst leben, dass jemand, der ihnen nahesteht, getötet, überfallen oder verschleppt wird. Das ist äusserst beunruhigend.“
In Afghanistan sagten 76 Prozent derjenigen, die eine persönliche Erfahrung mit dem bewaffneten Konflikt gemacht hatten, man habe sie zum Verlassen ihrer Wohnstätten gezwungen, während 61 Prozent erklärten, sie hätten den Kontakt zu einem nahen Angehörigen verloren. In Liberia erklärte „eine erschreckende Zahl von 90 Prozent“, so das IKRK, sie seien vertrieben worden, während es im Libanon 61 Prozent und in der RDC 58 Prozent waren. Der Verlust des Kontakts mit einem Angehörigen war ebenfalls sehr hoch und lag in Liberia bei 86 Prozent, im Libanon bei 51 Prozent und in der DRC bei 47 Prozent.
Ein weit verbreitetes Problem ist auch der begrenzte Zugang zu Dienstleistungen wie Wasser, Strom und Gesundheitsversorgung, vor allem in Afghanistan und Haiti, wo weit mehr als die Hälfte der unmittelbar von bewaffneter Gewalt betroffenen Menschen erklärten, sie hätten den Mangel an diesen grundlegenden Bedarfsgütern erfahren.

Im Rahmen der Forschungsarbeiten arbeitete das IKRK nach eigenen Angaben mit Studiengruppen in den konfliktbetroffenen Ländern, um einen tieferen Einblick in die wirklichen Kriegserfahrungen der Menschen zu gewinnen. „Indem wir mit vielen Menschen sprachen und wirklich hörten, was sie zu sagen hatten, begannen wir die Lage mit ihren Augen zu sehen. Dies wird die Art, wie wir ihnen und anderen Notleidenden helfen, stark verbessern und beeinflussen“, sagte die IKRK-Vizedirektorin für Kommunikation, Charlotte Lindsey, die die Studie überwachte.
OPFER AN DER BASIS BEGLEITEN
Wie aus dem Bericht hervorgeht, wenden sich die Menschen mit ihrem Hilfeansuchen zunächst einmal an die, die ihrer „Heimstätte am nächsten“ sind. In allen Ländern, in denen die Untersuchungen durchgeführt wurden, sagten die Menschen, ihre Familien und Gemeinschaften seien die ersten gewesen, die ihnen zu Hilfe gekommen seien und hätten ihre Bedürfnisse auch am besten verstanden.
„Wir müssen tun, was wir nur können, um die Gemeinschaften besser zu befähigen, die Lage angesichts eines bewaffneten Konflikts zu bewältigen“, sagte P. Krähenbühl. „Indem wir mit Menschen aus den betroffenen Gebieten sowie mit nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften und Lokalbehörden zusammenarbeiten, versuchen wir die Familien und Gemeinschaften an der Basis zu begleiten. Die Ergebnisse der Studie heben die Bedeutung dieser Vorgehensweise hervor.“

Zeitlich darauf abgestimmt, um mit dem 150. Jahrestag der Schlacht von Solferino (24. Juni 1859) zusammenzufallen, hat die neue Studie die „heutigen Solferinos“ und ihren Einfluss auf die Menschen im Auge. „Wenn man nach Solferino schaut, wo, wie es heisst, nur ein Zivilist getötet wurde, und wenn man das mit den heutigen Konflikten in Afghanistan, der Demokratischen Republik Kongo, im Irak, in Sri Lanka, Gaza oder Somalia vergleicht, dann kommt man zum Schluss, dass der Krieg heute den Zivilisten ein weitaus höheres Mass an körperlichem und emotionellem Leiden abverlangt“, sagte Pierre Krähenbühl. „Dies verweist ganz deutlich auf die Notwendigkeit, dass die Kriegführenden das humanitäre Völkerrecht und die Kriegsregeln besser einhalten. Zivilisten und ihr Eigentum müssen jederzeit verschont und geschützt werden.“
Weitere Ergebnisse des Berichts:
- Von den mehr als 4.000 befragten Menschen erklärten insgesamt 44 Prozent, bewaffneter Konflikt gehöre zu ihren persönlichen Erfahrungen. Den höchsten Anteil stellten die Menschen in Liberia (96 Prozent), Libanon (75 Prozent) und Afghanistan (60 Prozent).
- Rund 66 Prozent der Befragten erklärten, sie hätten die Folgen der Feindseligkeiten gespürt, auch wenn sie sich nicht persönlich oder unmittelbar betroffen erachteten. Dies trifft auf fast jedermann im Libanon (96 Prozent), Liberia (96 Prozent), Haiti (98 Prozent) und Afghanistan (96 Prozent) zu.
- Fast 30 Prozent der unmittelbar von den Kämpfen Betroffenen sagten, ein nahes Familienmitglied sei während den Kämpfen ums Leben gekommen. Dramatisch höher lag diese Zahl in Liberia (69 Prozent) und in Afghanistan (45 Prozent). Sowohl im Libanon als auch in der DR Kongo betrug die entsprechende Zahl etwa 25 Prozent.
- Am höchsten war der Verlust des Einkommens unter den unmittelbar von Gewalt und bewaffnetem Konflikt Betroffenen in Afghanistan (60 Prozent), Libanon (51 Prozent) und Haiti (40 Prozent). In den acht Ländern erklärten 18 Prozent, sie seien bei den Kämpfen verwundet worden. Ausserdem sagten 17 Prozent, man habe sie gefoltert, während 32 Prozent aussagten, Demütigungen erlitten zu haben.
Das IKRK führte die Studie „Unsere Welt. Feldeinsichten.“ als Teil der Rotkreuz- und Rothalbmondkampagne „Unsere Welt. Engagiere dich“ durch.
Abbildungen:
- Liberia. Amputierte bei einem Fußballspiel © IKRK/VII/Christopher Morris.
- Tripolis, Palästinenserlager Beddawi. Hasniyye Yehia Tawiyyeh hat ihren Mann und einen Sohn verloren. © CICR/VII/Franco Pagetti
- Henry Dunant © IKRC
- Brice Osmer, Port-au-Prince, Cité-Soleil, Haiti. Brice geriet in ein Feuergefecht zwischen UN-Blauhelmen und bewaffneten Banden und verlor einen Arm. © IKRK/VII/Ron Haviv
- Schlacht von Solferino. Gemälde von Carlo Bossoli, Museo Nazionale del Risorgimento, Turin © Photothèque IKRK (DR)




