Göttingen. – Zum 50. Jahrestag der Verträge von Evian, die am 18. März 1962 die Unabhängigkeit Algeriens von der Kolonialmacht Frankreich regelten, hat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) eine kritische Bilanz der Menschenrechtslage in dem nordafrikanischen Staat gezogen. „Algeriens Machthaber sind für den gewaltsamen Tod von zehntausenden Menschen verantwortlich, doch niemand zieht sie zur Rechenschaft“, kritisiert die Organisation in einem 13 Seiten umfassenden Memorandum.
„Brutale Unterdrückung von Protesten, Straflosigkeit, Korruption, Vetternwirtschaft und die Ausgrenzung nicht-arabischer Minderheiten kennzeichnen bis heute die katastrophale Menschenrechtslage in Algerien“, heißt es in dem Bericht der GfbV. „An den Händen der algerischen Führung klebt Blut, denn sie ist mitverantwortlich für den Tod von 120.000 bis 150.000 Menschen während des Bürgerkrieges in den 90er-Jahren“, sagte GfbV-Afrikareferent Ulrich Delius. Mit der illegalen Bewaffnung von Milizen und gezielten Terrorakten des Geheimdienstes DRS habe der staatliche Sicherheitsapparat die Gewalt geschürt. Bis heute sei das Schicksal von mindestens 6.146 namentlich bekannten Verschwundenen noch immer ungeklärt, die während des Bürgerkriegs (1991-2001) vermutlich von Sicherheitskräften entführt, gefoltert und ermordet wurden.
„Um international Unterstützung im Kampf gegen radikale Islamisten zu bekommen, ist der Regierung Algeriens jedes Mittel recht“, erklärte Delius. So hätten Geheimdienstmitarbeiter, die die radikal-islamische GIA-Bewegung unterwandert hatten, im März 1996 sieben französische Trappisten-Mönche entführt. Den Mönchen, die bei der Entführung zu Tode kamen, sei vorgeworfen worden, sie hätten auch verletzte Islamisten gepflegt. Bis heute weiß man nicht, ob die Mönche gezielt von Geheimdienstleuten ermordet oder versehentlich bei einem Angriff der Luftwaffe getötet wurden. Für ihren Tod seien wider besseren Wissens die Islamisten verantwortlich gemacht worden. Die wahren Umstände seien vertuscht und erst Jahre später nach Veröffentlichung von französischen Geheimdokumenten bekannt gemacht worden.
Nicht-arabische Minderheiten wie Kabylen und Tuareg leiden nach Angaben der GfbV unter Ausgrenzung und Leugnung ihrer Rechte. Bis heute sei niemand dafür zur Verantwortung gezogen worden, dass 132 Kabylen bei Protesten im Frühjahr 2001 von Sicherheitskräften getötet wurden. Bis zu 20.000 Tuareg, die bei französischen Atomtests in der Sahara in den 60er-Jahren verstrahlt wurden, warteten noch immer auf eine Entschädigung. Statt sich für ihre Rechte stark zu machen, nutze die algerische Regierung die Diskussion um die Atomtests nur dazu, Frankreich zu kritisieren.
Menschenverachtend sei die Anordnung der Regierung gewesen, 600 Islamisten in Internierungslagern in dem verstrahlten Atomtestgebiet einzusperren. Im Februar 2011 seien rund 30.000 Bereitschaftspolizisten in Algier eingesetzt worden, um ein Übergreifen der in anderen nordafrikanischen Staaten andauernden Proteste zu verhindern.