Berlin. - "Die Welt geht mit dem Kriege schwanger. Der Papst ist gegen die Abtreibung." Mit diesen beiden Sätzen hat der Kabarettist Matthias Deutschmann einmal die Weltlage auf den Punkt gebracht. Derzeit brennt die Welt an allen Ecken und Enden. Und die Vereinten Nationen treiben wieder eine neue Sau durchs Dorf: die Post-2015 Agenda. Hunderttausende, wenn nicht Millionen engagierte Menschen weltweit werden an den neuen Entwicklungszielen arbeiten - womöglich an den falschen. epo.de Herausgeber Klaus Boldt sprach darüber mit dem Vorstand der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, Barbara Unmüßig.
Klaus Boldt: Im kommenden Jahr wird Bilanz gezogen. 15 Jahre lang haben Regierungen und nichtstaatliche Organisationen rund um den Globus sich an den Millennium-Entwicklungszielen (MDG)) abgearbeitet. Die Bilanz ist durchwachsen: Millionen Menschen konnten in dieser Zeit der Armut entrinnen, Millionen andere wurden durch die ungerechten Weltwirtschaftsstrukturen in die Armut gedrängt. Die Reichen sind in den 15 Jahren reicher geworden, die Armen ärmer - zumindest was die "Geberländer" angeht. Die Armut ist im Zuge der Schuldenkrise nach Europa zurückgekehrt, die Klimaerwärmung ein Randthema geworden. Wird sich im Rahmen des sogenannten Post-2015 Prozesses strukturell etwas ändern?
Barbara Unmüßig: Angesichts der Weltkrisen müsste der Post-2015 Prozess radikale, klare Ziele formulieren, die die Ursachen der Armut und der globalen Umweltzerstörung wirklich adressieren. Ich kann aber nicht erkennen, dass der politische Wille da wäre, die großen Herausforderungen anzugehen: Wie können wir zwei Milliarden Menschen aus Hunger und Armut herausbringen? Wie stoppen wir den massiven Verlust globaler Ökosysteme? Wie stoppen wir den Klimawandel? Dieser Prozess ist überhaupt nicht in der Lage, klare Ziele zu formulieren. Es gibt eine unheilige Allianz aus OECD- und Schwellenländern, weder die planetarischen Grenzen zu akzeptieren noch entsprechende Weichenstellungen vorzunehmen: Wie erreichen wir das Zwei-Grad-Ziel? Wie gehen wir mit der Übernutzung von Ressourcen um? Dazu gibt es keinen politischen Willen, schon gar keinen Konsens. Rio+20 2012 hat uns das doch deutlich vor Augen geführt. Ich sehe nicht, wo jetzt, zwei Jahre später, der politische Wille herkommen soll, dem CO2 Ausstoss oder dem Ressourcenverbrauch Grenzen zu setzen.
Klaus Boldt: Worauf führst Du das zurück?
Barbara Unmüßig: Die planetarischen Grenzen, wie sie die Wissenschaft darstellt, werden auf der politischen Ebene nicht akzeptiert. Es werden keine Konsequenzen daraus gezogen. Die Weltökonomie ist eine fossile, wachstumsgetriebene Ökonomie, in der es trotz aller Machtverschiebungen nur darum geht, sich ein möglichst großes Stück vom Kuchen abschneiden zu dürfen. Grenzziehungen, die wir dringend bräuchten, werden als Wachstumshemmnis betrachtet.
Klaus Boldt: Welche Rolle spielt die Post-2015 Agenda bei diesem Machtspiel?
Barbara Unmüßig: Die Post-2015 Agenda tut so, als gäbe es all die politischen und ökonomischen Interessengegensätze nicht. Es wird deshalb auch eher technokratisch denn politisch argumentiert. In- und Output, Indikatoren und Monitoring beherrschen zu guten Teilen die Rhetorik. Meines Erachtens steckt die globale NGO-Community viel zu viel Zeit und Geld in diesen Prozess. Und es mangelt an einer klaren politische Analyse, was die eigentlichen Macht- und Herrschaftsinteressen sind, die verhindern, dass wir zu globalen Vereinbarungen kommen. Statt dessen gibt man sich zufrieden mit viel zu vielen ungewichteten Zielen, die noch nicht einmal eine klare Orientierung geben. Zivilgesellschaftliche Organisationen hätten klare Ziele formulieren müssen, die eine Trendumkehr einleiten würden. Dann müsste man nämlich Ziele setzen wie die Deckelung des Phosphor-Abbaus, der eine endliche Ressource ist; wie wir den CO2-Ausstoß reduzieren; wie wir die Überfischung und Übersäuerung der Meere stoppen; wie wir die Zerstörung der Mangrovenwälder, der Kinderstube der Fische, beenden. Diese wären zwar von den verhandelnden Eliten nicht akzeptiert worden, weil solche Grenzziehungen nicht erwünscht sind. Die globale Zivilgesellschaft hätte dadurch aber die Dringlichkeit der Trendumkehr konstant dokumentieren und kommunizieren können.
Klaus Boldt: Wir sind schon in der Lage, klare Ziele zu formulieren. Aber diejenigen, die an der Macht sind, sind nicht willens...
Barbara Unmüßig: ...ja, genau. Die Lücke zwischen all dem akkumulierten Wissen, was wir tun müssten, den Ausverkauf der Natur noch einigermaßen zu stoppen, und dem politischen Handeln ist einfach gigantisch. Es geht um die Frage, wie wir die Politik wieder dahin bekommen, ihre eigentliche Aufgabe wahrzunehmen: Gemeingüter zu schützen und Gemeinwohl-Interessen zu vertreten, die die heutige und zukünftige Generationen betreffen.
Klaus Boldt: Welche Politiker interessiert dieses Thema noch? Die sind doch jetzt dabei Kriege zu führen...
Barbara Unmüßig: Der ganze Post-2015 Agenda-Prozess ist ein Prozess, der die aktuellen Kriege und Krisen und die globalen Herausforderungen durch radikale, fundamentalistische Organisationen überhaupt nicht in den Blick nimmt. Ich habe schon im Jahr 2000 kritisiert, dass der ganze MDG-Prozess mit einer absolut einseitigen Armuts-Definition operiert. Multidimensionale Begriffe von Armut finden gar keinen Eingang in die globalen Debatten...
Klaus Boldt: Was meinst Du mit eindimensional?
Barbara Unmüßig: Es wird auf Einkommensarmut rekurriert, mit arbiträren, monetären Größen wie der Weltbank-Definition, dass arm ist, wer nur 1,25 US-Dollar am Tag verdient. Der Diskurs hat sich aber längst weiterentwickelt, auch durch Amartya Sen, ...
Klaus Boldt: ...den indischen Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen, der durch seine Beiträge zur Interdependenz von ökonomischer Freiheit, sozialer Sicherheit und Demokratie bekannt wurde und auf dessen Idee der Human Development Index zurückgeht, den das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen seit 1990 herausgibt...
Barbara Unmüßig: ...und der von einem multidimensionalen Armutsbegriff ausgeht, der besagt, dass es vor allem um Zugang zu Rechten und Ressourcen geht, und um die Frage: Wie ist es um Frieden und Sicherheit bestellt? Wer sind denn die Treiber von Armut? Es sind Krisen und Konflikte, die zu Vertreibung führen, die die Mühe und Arbeit von Jahren - und damit verbunden kleine Zuwächse für ein besseres Leben" - von einem auf den anderen Tag zunichte machen.
Ein anderer Treiber ist die Makroökonomie. Wir können doch nicht die Augen davor verschließen, dass makroökonomische Entscheidungen wie gegenüber Südeuropa Arme produzieren, sie aus Gesundheitssystemen rauswerfen und so weiter! Und es geht darum, dass wir einen menschenrechtsbasierten Ansatz brauchen. Die Menschen müssen für ihre Rechte streiten können. Es geht also um demokratische Handlungsspielräume. Es muss ihnen jemand zuhören. Wir haben es aber mit politischen Systemen zu tun, die diese Handlungsspielräume mehr und mehr verengen, Menschen kriminalisieren und diskriminieren und aus politischen Entscheidungen ausschließen. Das sind für mich die großen Linien, um die es geht.
Klaus Boldt: Ich bewundere Deine diplomatische Ausdrucksweise: "makroökonomische Entscheidungen". Ich hätte es deutlicher ausgedrückt: Damit Geldbesitzer ihr Vermögen und Politiker ihre Macht behalten und mehren können, müssen die Ärmeren Rettungspakete schnüren und ihren Gürtel enger schnallen...
Barbara Unmüßig: Austeritätspolitik ist eine Politik, die nicht inklusiv ist. Sie nimmt die Betroffenen überhaupt nicht ins Visier.
Klaus Boldt: Am 24. November wird Bundeskanzlerin Angela Merkel die "Zukunftscharta" übergeben, das Ergebnis des Dialog-Prozesses "EINEWELT - Unsere Verantwortung" des BMZ. Verantwortlich für den Gesamtauftritt der "Zukunftscharta" ist die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ). BMZ und GIZ feiern die Charta mit aufwendigen Image-Filmen als "Erfolgsbeispiel für eine nationale Partnerschaft" für das "Entwicklungsjahr 2015, in dem die Bundesregierung den G20-Vorsitz und die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt und Entwicklung nebst Klimawandel zu einem zentralen Thema machen will. Betrieben wird die Plattform, die für eine breite Legitimierung der Entwicklungspolitik der Bundesregierung sorgen soll, von professionellen PR- und Politikberatern. Und die Ergebnisse dieser "Bürgerbeteiligung" werden nicht in den Post-2015 Prozess der UNO einfließen.
Barbara Unmüßig: Viele fragen sich, welche Absicht hinter dieser Zukunftscharta steckt. Die Zukunftscharta hat mit dem Post-2015 Prozess nichts zu tun. Ein Streitpunkt - auch mit NGOs - ist ja: Welche Verbindlichkeit hat denn die Post-2015 Agenda? Was mich stört ist, dass die Debatte, wie wir Armut und Hunger bekämpfen, wieder komplett delegiert wird an die Helfer, an die Entwicklungspolitik, aber nicht an diejenigen, die eigentlich maßgebliche Stellschrauben in der Hand hätten, die Armut zu verhindern oder neue Armut zu produzieren. Armutsbekämpfung braucht einen ganzheitlichen Ansatz, alle Politikfelder müssen glaubwürdig dazu beitragen. Sie an die multilaterale, die bilaterale Entwicklungspolitik und die Hilfswerke zu delegieren, ist der strukturelle Fehler im "System". Wir waren in der Diskussion schon einmal weiter. Wir müssen die strukturellen Ursachen von Armut ins Visier nehmen. Es gibt einige gute Positionspapiere von NGOs und Zusammenschlüssen, die weltwirtschaftliche Themen adressieren und menschenrechtsbasierte Prinzipien für die Post-2015 Agenda fordern. Dennoch beobachte ich, wie im Post-2015 Prozess die Umwelt-, Entwicklungs-, Frauen-, Friedens-, Gesundheits-NGOs alle nette Ziele formulieren, jede(r) für sich, viel zu wenig gebündelt. So entsteht keine politische Schlagkraft. Dann wird ein Round Table nach dem anderen gemacht, es wird Pseudo-Partizipation in "multi-stakeholder"-Prozessen praktiziert. Man merkt gar nicht, dass man sich entpolitisieren lässt, indem man sich auf technische Prozesse einlässt. Wir sehen überhaupt nicht mehr, was im Großen und Ganzen eigentlich passiert.
Klaus Boldt: Durch alle Post-2015 Debatten zieht sich der Wunsch, die Wirtschaft mit ins Boot zu holen. Das ist nichts Neues. Wir kommen beide aus dem "Ländle" und wissen, dass mittelständische Unternehmen Baden-Württemberg und Deutschland nach vorn gebracht haben. Aber in all diesen Papieren, ob UNO, EU-Kommission oder BMZ, stehen Forderungen, die in ihrer Konsequenz jetzt vom Internationalen Währungsfonds z.B. in der Ukraine umgesetzt werden: Günstiges Investitionsklima schaffen, den Staatssektor schrumpfen, die Wirtschaft "liberalisieren", Sozialleistungen abbauen, die Reichtümer des Landes privatisieren, die lokale Wirtschaft in die "globale Wertschöpfungskette" integrieren, möglichst billig für den Weltmarkt produzieren, "nachhaltiges Wachstum" generieren. Da sind wir wieder an dem Punkt, an dem Du vorhin angesetzt hast und gesagt hast: Das hält unser Planet nicht aus.
Barbara Unmüßig: Ja. Eine Fortsetzung des Konsums- und Produktionsmodells, wie wir es praktizieren oder wie es die globale Mittelklasse für sich in Anspruch nimmt, ist nicht möglich. Das sagt ja ein Großteil der Wissenschafts-, Politik- und Zivilgesellschafts-Community auch ganz klar. Dann bräuchten wir zwei oder drei oder gar vier Planeten. Den Satz "Das hält unser Planet nicht aus" kenne ich seit 1992, seit dem Rio-Gipfel. Leider wird weiter bis in die letzten Winkel der Erde hinein investiert, auch in - aus ökologischer Sicht - no-go areas wie die Arktis oder Urwälder. Es akzeptiert jeder die Gleichung: Entwicklung = Wachstum.
Klaus Boldt: Was ist die Alternative zum Post-2015 Prozess? Bei sich selbst anfangen, ein "alternatives Leben" führen und die Politik sich selbst überlassen? Es gibt ja, auch in Deutschland, genügend Leute, die das Bewusstsein haben...
Barbara Unmüßig: Die lokale und die individuelle Ebene kann man nicht gegen die nationale und internationale ausspielen. Für mich ist klar, dass wir auf mehreren Ebenen politisch arbeiten müssen: gegen massive Fehlentwicklungen, gegen Großinvestitionen in den Widerstand gehen und klar Nein sagen! Deshalb ist es schön, dass immer wieder unsinnige Projekte verhindert werden können. Aber das sind lokale Erfolge. Oder klar zu machen, dass wir diese Klimaverhandlungen nicht mehr wollen, die zu keinem Durchbruch führen. Das ist die klassische Rolle der Zivilgesellschaft. Gegen den Kohle-Abbau protestieren, ob in Brandenburg oder Indien. Das ist Solidarität im 21. Jahrhundert.
Aber wir müssen auch nach den größeren Stellschrauben schauen, an Alternativen arbeiten. Die Böll-Stiftung gibt z.B. den Fleischatlas heraus, in dem wir die globalen Implikationen der Fleischproduktion und des Fleischkonsums aufzeigen. Was wir dabei immer machen, ist die demokratischen, die sozialen und die ökologischen Folgen zu bedenken. Was bedeutet Machtkonzentration im Fleischsektor für den Verbraucher, wie unterminiert ökonomische Macht politische Entscheidungsfreiheit?
Klaus Boldt: Was wir in Tausenden Foren diskutieren, interessiert diejenigen, die wirklich Macht und Geld in dieser Welt haben, überhaupt nicht.
Barbara Unmüßig: Ich glaube noch an die Macht demokratischer Prozesse...
Klaus A. Boldt ist Gründer und Herausgeber
von Entwicklungspolitik Online (epo.de)
Fotos/Screenshots: boldt publishing/epo.de
Zum Weiterlesen: