Berlin. - Entwicklungsminister Gerd Müller hat Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag die "Zukunftscharta" überreicht. Die Charta soll die Ziele der Bundesregierung für die zukünftige Entwicklungszusammenarbeit präzisieren. "Unsere internationale Glaubwürdigkeit hängt davon ab, ob wir diese Prinzipien auch selbst leben", sagte Merkel. Doch Papier ist geduldig. Und die acht Handlungsfelder der Charta sind so allgemein gefasst, dass jeder sie unterschreiben kann und keiner sie konkret umsetzen muss.
Neben der Kanzlerin war ein Großaufgebot des Kabinetts beim "EINEWELT-Forum" in Berlin zugegen: Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD), Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU), Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) und Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU). 100 Initiativen und Akteure aus dem gesamten Bundesgebiet luden rund 3.000 Gäste in der "Zukunftswerkstatt" zum Mitmachen, Weiterdenken und Diskutieren ein.
Die knapp 60 Seiten umfassende Charta mit dem Titel "EINEWELT – unsere Verantwortung" gibt "Empfehlungen für nachhaltiges Handeln in verschiedensten Lebensbereichen – ob in der Politik, der Wirtschaft oder im Alltag jedes Einzelnen", so das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). "Es gibt nicht mehr eine erste, zweite, dritte Welt", erklärte Entwicklungsminister Müller. "Es gibt nur noch die EINEWELT, für die wir alle Verantwortung haben. Die Welt braucht Zukunft, die Welt braucht Werte für globales Wirtschaften und Handeln." Hierfür biete die Zukunftscharta konkrete Lösungsansätze. Wichtig sei der verantwortungsvolle Umgang mit den weltweiten Ressourcen – und zugleich die Bewahrung der Schöpfung: "Ohne Luft, ohne Klima, ohne Atmosphäre gibt es kein Leben", so der Minister.
Die Charta ist ein Sammelsurium ähnlicher Allgemeinplätze. Und sie ist nach BMZ-Darstellung "das Ergebnis eines breiten Diskussionsprozesses, an dem sich viele gesellschaftliche Gruppen, Hilfsorganisationen, Nichtregierungsorganisationen, Wirtschaft und Politik beteiligt haben. Deutschlandweit konnten sich alle Interessierten an der Entstehung beteiligen und ihre persönlichen Ideen und Vorstellungen in die Diskussion einbringen."
Verantwortlich für die Internet-Plattform der "Zukunftscharta" ist die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ). BMZ und GIZ feierten die Charta mit aufwendigen Image-Filmen als "Erfolgsbeispiel für eine nationale Partnerschaft" für das "Entwicklungsjahr 2015, in dem die Bundesregierung den G7-Vorsitz übernimmt und Entwicklung nebst Klimawandel zu einem zentralen Thema machen will. Betrieben wird die Plattform, die für eine breite Legitimierung der Entwicklungspolitik der Bundesregierung sorgen soll, von professionellen PR- und Politikberatern. Die Ergebnisse dieser "Bürgerbeteiligung" fließen freilich nicht in den Post-2015 Prozess der UNO mit ein.
DAS "LEUCHTTURMPROJEKT" ERNTET WIDERSPRUCH
"Der Beteiligungsprozess ist durchaus gelungen", verlautbarte der Verband Entwicklungspolitik (VENRO). "Ich hätte mir aber im Ergebnis konkretere Aussagen zur Umsetzung der Ziele gewünscht", so der VENRO-Vorsitzende Bernd Bornhorst. "Wir brauchen jetzt einen Umsetzungsplan mit einem festen Zeitrahmen sowie eindeutigen Zuständigkeiten."
In einer Stellungnahme bemängelt VENRO, dass über die Ursachen zentraler globaler Probleme wie Armut und Umweltzerstörung kaum Aussagen gemacht würden. Strukturelle Faktoren, die weltweit zu Ungleichheit führen, wie das auf Wachstum ausgerichtete westliche Wirtschaftsmodell und das internationale Handels- und Finanzsystem, fänden keine Erwähnung.
Die Hilfswerke terre des hommes und Welthungerhilfe forderten die Bundesregierung indes auf, eine globalen Agenda für nachhaltige Entwicklung mitzugestalten, "die auch für Deutschland bindende Verpflichtungen enthält". "Hierzu sollte der Bundestag ein Konzept mit konkreten Umsetzungsschritten beschließen", sagte Danuta Sacher, Vorstandsvorsitzende von terre des hommes.
Beide Organisationen bemängeln das Nullwachstum des zukünftigen Entwicklungsetats und fordern eine konsequente Neuausrichtung des Ministeriums. "Wir wünschen uns ein starkes BMZ, das tatsächlich zu einem Ministerium für globale Zukunftsfragen wird. Dafür muss es im Kabinett substantiell aufgewertet und seine Koordinationsfunktion gegenüber anderen Ressorts gestärkt werden", sagte Wolfgang Jamann, Generalsekretär der Welthungerhilfe. Ansonsten befürchten die Organisationen, dass die Zukunftscharta ohne große Wirkung verpufft.
DGVN-Bundesvorstandsmitglied Matthias Böhning schrieb in einer inhaltlichen Kritik, die Initiative sei "an einigen Stellen erstaunlich inhaltslos und schwach". "Ein unglücklicher Zufall ist zudem, dass der inklusive Erstellungsprozess der Zukunftscharta mit breiter Stakeholder-Beteiligung fast zeitgleich zur intransparenten und kaum partizipativen Formulierung der deutschen Verhandlungsposition für den SDG-Prozess stattfand", so Böhning weiter. "Das trübt den ansonsten frohen Charakter des Zukunftscharta-Prozesses erheblich.
"Echte Mitgestaltung würde bedeuten, dass die Ergebnisse des Zukunftscharta-Prozesses die deutsche SDG-Position zumindest mitprägen dürfen. Doch ein Feed-In in die globalen Verhandlungen, die jetzt in die heiße Phase gehen, ist nicht vorgesehen", kritisierte Böhning.
Ist die "Zukunftscharta" eine reine Show-Veranstaltung, die Bürgerbeteiligung lediglich simulieren soll?
Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung: "Die Zukunftscharta hat mit dem Post-2015 Prozess nichts zu tun. Ein Streitpunkt - auch mit NGOs - ist ja: Welche Verbindlichkeit hat denn die Post-2015 Agenda? Was mich stört ist, dass die Debatte, wie wir Armut und Hunger bekämpfen, wieder komplett delegiert wird an die Helfer, an die Entwicklungspolitik, aber nicht an diejenigen, die eigentlich maßgebliche Stellschrauben in der Hand hätten, die Armut zu verhindern oder neue Armut zu produzieren. Armutsbekämpfung braucht einen ganzheitlichen Ansatz, alle Politikfelder müssen glaubwürdig dazu beitragen. Sie an die multilaterale, die bilaterale Entwicklungspolitik und die Hilfswerke zu delegieren, ist der strukturelle Fehler im 'System'. Wir waren in der Diskussion schon einmal weiter. Wir müssen die strukturellen Ursachen von Armut ins Visier nehmen."
Im Interview mit epo.de betonte Unmüßig zudem: "Es gibt einige gute Positionspapiere von NGOs und Zusammenschlüssen, die weltwirtschaftliche Themen adressieren und menschenrechtsbasierte Prinzipien für die Post-2015 Agenda fordern. Dennoch beobachte ich, wie im Post-2015 Prozess die Umwelt-, Entwicklungs-, Frauen-, Friedens-, Gesundheits-NGOs alle nette Ziele formulieren, jede(r) für sich, viel zu wenig gebündelt. So entsteht keine politische Schlagkraft. Dann wird ein Round Table nach dem anderen gemacht, es wird Pseudo-Partizipation in "multi-stakeholder"-Prozessen praktiziert. Man merkt gar nicht, dass man sich entpolitisieren lässt, indem man sich auf technische Prozesse einlässt. Wir sehen überhaupt nicht mehr, was im Großen und Ganzen eigentlich passiert."
INSZENIERUNG VON ENTWICKLUNGSPOLITIK ERSETZT NICHT POLITISCHES HANDELN
Tobias Kahler, Deutschlanddirektor der entwicklungspolitischen Lobby-Organisation ONE, begrüßte den Konsultationsprozess mit der Zivilgesellschaft". Die Charta enthalte "viele wichtige Ziele wie die Beendigung extremer Armut und der HIV/Aids-Epidemie bis zum Jahr 2030. Auch das Ziel, 0,7-Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit aufzuwenden, soll weiter verfolgt werden."
Dieses Ziel wurde 1970 von den Vereinten Nationen beschlossen und ist noch von keiner Bundesregierung ernsthaft angegangen worden. Während skandinavische Länder und sogar Großbritannien das 0,7%-Ziel umgesetzt haben, scheint sich die reiche Bundesrepublik nicht in der Lage zu sehen, den Entwicklungsetat entsprechend zu steigern.
Mehr Geld ist indes nicht entscheidend - in vielen Fällen schadet es einer demokratisch legitimierten Entwicklung mehr als es nützt. Schlimmer ist, dass die Wirtschafts- und Finanzressorts und der Haushaltsausschuss des Bundestages die hehren Pläne der Entwicklungsminister jedweder Couleur gerne torpedieren. Für die Subventionierung von Agrarexporten, überdimensionierten EU-Fischfangflotten oder für Exportbürgschaften für Kernkraftwerke in Entwicklungsländer scheint immer genügend Geld da zu sein. Die meisten deutschen Entwicklungsgelder fließen nach Afghanistan, wo geopolitische und Rohstoff-Interessen das Motiv der Armutsbekämpfung überlagern.
"Anstatt Entwicklungspolitik zu inszenieren brauchen wir endlich wirksame Entscheidungen und Maßnahmen von der Bundesregierung", kommentierte Heike Hänsel, entwicklungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. "Der breite Beteiligungsprozess ist zu begrüßen. Doch die große Übergabeshow halte ich für deplatziert, denn die Bundesregierung wird mit ihrem neuen Entwicklungshaushalt, der real sinken wird, den hehren Zielen in keiner Weise gerecht." Hänsel weiter: "Die Bundesregierung muss ein deutliches Signal setzen, dass eines der reichsten Länder der Erde ernsthaft seinen Beitrag zu Armutsbekämpfung leisten will. Wer von Entwicklungschancen spricht, darf zu weltweiter sozialer Umverteilung nicht schweigen."