Berlin. - Am Ende der Pressekonferenz brachte Sven Hilbig, Handelsreferent bei Brot für die Welt, die Sache auf den Punkt: "Letztlich leistet das BMZ mit der Studie Schützenhilfe für das Bundeswirtschaftsministerium." Es ging am Mittwoch bei der Heinrich-Böll-Stiftung um eine Studie des Münchener ifo-Instituts zu TTIP, dem geplanten transatlantischen Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA - und dessen Folgen für die Entwicklungsländer. Brot für die Welt, Greenpeace und das Forum Umwelt und Entwicklung legten jetzt einen "kritischen Kommentar" dazu vor.
Die Ende Januar erschienene Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo München mit dem Titel "Mögliche Auswirkungen der TTIP auf Entwicklungs- und Schwellenländer" ist umstritten (epo.de hat ausführlich darüber berichtet). "Wunschdenken statt zeitgemäßer Wissenschaft" nennen die NGOs ihre Untersuchung, für die Nelly Grotefendt, David Hachfeld, Sven Hilbig, Jürgen Knirsch und Francisco Mari verantwortlich zeichnen.
Kurz gefasst kommen die NGOs in ihrem Kommentar (ttip_ifo_forumue_kommentar.pdf) zu dem Schluss, die ifo-Studie sei "eine einseitige Darstellung, die die mögliche Wirkung des geplanten TTIP-Abkommens spekulativ ins Positive verdreht". Sie blende den in Entwicklungsländern nach wie vor dominierenden Agrarsektor fast vollständig aus. Sie zementiere das längst "nicht mehr haltbare Bild, Wirtschaftswachstum biete die entscheidende Lösung für die Probleme der Welt". Sie gehe von der existierenden Exportstruktur der Länder des Südens aus, obwohl diese versuchten, ihre Exporte immer mehr zu diversifizieren und so zu Konkurrenten mit Unternehmen in den USA und der EU werden könnten. Sie sei auch deshalb "untauglich", weil die ifo-Studie nur die ökonomischen Konsequenzen, nicht aber die "Folgen für verletzliche Bevölkerungsgruppen in Entwicklungsländern" betrachte, sagte Nelly Grotefendt vom Forum Umwelt und Entwicklung.
Zudem: Die Studie wurde mit heißer Nadel gestrickt. Die Autoren, Prof. Gabriel Felbermayr vom ifo-Institut München und Prof. Wilhelm Kohler vom Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) Tübingen, hatten nach Angaben des Referenten für Handelspolitik bei Brot für die Welt, Sven Hilbig, lediglich drei Monate Zeit. Denn ihr Auftraggeber, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), hatte es eilig. Hilbig kritisierte, von der (vom BMZ stets gerne herbeizitierten) Kohärenz mit anderen Politikfeldern könne "keine Rede sein". Auch würden beispielsweise die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte völlig vernachlässigt. Das verstoße nicht nur gegen BMZ-Vorgaben, sondern auch gegen den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, in dem entwicklungspolitische Kohärenz vorgeschrieben ist. Dort heißt es im Pararaphen 208:
"(1) Die Politik der Union auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit wird im Rahmen der Grundsätze und Ziele des auswärtigen Handelns der Union durchgeführt. Die Politik der Union und die Politik der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit ergänzen und verstärken sich gegenseitig.
Hauptziel der Unionspolitik in diesem Bereich ist die Bekämpfung und auf längere Sicht die Beseitigung der Armut. Bei der Durchführung politischer Maßnahmen, die sich auf die Entwicklungsländer auswirken können, trägt die Union den Zielen der Entwicklungszusammenarbeit Rechnung."
10% DER WELTBEVÖLKERUNG ENTSCHEIDEN, WIE 90% LEBEN SOLLEN
Hilbig stört auch, dass im Rahmen des post-2015 Prozesses viel von "nachhaltigen Entwicklungszielen" (SDG) die Rede ist, in der ifo-Studie aber keine Erwähnung finde, dass die Produktions- und Konsummuster in den Industriestaaten verändert werden müssen, wenn der Planet überleben soll. "Zehn Prozent der Weltbevölkerung entscheiden, wie 90 Prozent der Menschheit leben sollen", kritisiert Hilbig. Brot für die Welt hat lange Zeit gefordert, die TTIP-Verhandlungen müssten aufgeschoben werden. "Jetzt lehnen wir die TTIP-Verhandlungen schlichtweg ab", sagt Hilbig auf der Pressekonferenz.
Antonio Tujan, Geschäftsführer von IBON International auf den Philippinen, fordert eine grundlegende Reform des Welthandelssystems, das einseitig die Industriestaaten bevorteile. Mit der "Campaign for People's Goals" setzt er sich gemeinsam mit anderen NGOs für "Entwicklungsgerechtigkeit" (Development Justice) ein. "Time to End Corporate War on the Poor" lautet das Motto der Kampagne - frei übersetzt: "Dem Krieg der Großunternehmen gegen die Armen ein Ende setzen."
Tujan ist die "Ernährungssicherheit" ein wichtiges Anliegen. Denn die Handelsbarrieren für Entwicklungsländer würden durch TTIP nur noch weiter wachsen. Denn während Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) glaubt, es wäre ein Segen für die ganze Welt, wenn via TTIP globale soziale und ökologische Mindesstandards gesetzt werden, berichtet Tujan, auch im Hinblick auf ein geplantes transpazifisches Freihandelsabkommen der EU, dass solche Abkommen verheerende Auswirkungen auf kleine Produzenten in Entwicklungsländern haben.
Beispielsweise könnten kleine Fischer, die ihre Thunfische mit der Leine fangen, durch die harten EU-Bestimmungen von Exporten in die EU ausgeschlossen werden - formal im Interesse des Umweltschutzes. Denn die EU will den Beifang von Delfinen verhindern. Delfine verfangen sich in den Treibnetzen großer Fischtrawler. Aber die EU-Auflagen könnten eben nur die großen Unternehmen erfüllen, nicht kleine Produzenten, die überwiegend für den eigenen Bedarf fischen.
DUMPING STATT FAIRER HANDELBEDINGUNGEN
Diese vermeintlich positiven Produktions- und Umweltauflagen der EU hindern schon jetzt Kleinbauern in Entwicklungsländern, sich am Welthandel zu beteiligen. Während sie aufgrund der EU-Bestimmungen kaum Zugang zu den Märkten in der EU haben, überschwemmt die europäische Agrarindustrie die Entwicklungsländer mit Schweinefleisch, Hühnchenteilen und Milchprodukten zu Dumpingpreisen. "Alle Handelsabkommen sollten nicht nur nachhaltig für die EU, sondern für alle Länder sein", fordert der philippinische Aktivist.
"We don't expect that the poor will be privileged in this process", merkt Tujan ironisch zum TTIP-Abkommen und zum post-2015 Prozess an. Aber kampflos will er das politische Handlungsfeld nicht den "Big Players" überlassen. "We continue to engage towards a real system change."
Dem schließen sich auf die deutschen NGOs an, die die kritische Analyse der ifo-Studie herausgegeben haben. Letztlich werten sie die vom BMZ bestellte ifo-Studie ungewollt auf, indem sie sie kritisch kommentieren und der Öffentlichkeit erneut in Erinnerung bringen. Aber es ist ihr Job, auch wenn es ein ungleiches Spiel ist, und sie machen ihn.
Foto: Screenshot by epo.de
Klaus Boldt ist Gründer und Herausgeber von Entwicklungspolitik Online.