rog Berlin. - Mindestens 860 Journalistinnen und Journalisten sowie Bürgerjournalistinnen und Bürgerjournalisten sind im Iran allein zwischen 1979 und 2009 verfolgt, festgenommen, inhaftiert und in manchen Fällen hingerichtet worden. Das belegen geleakte Informationen aus dem iranischen Justizministerium, die Reporter ohne Grenzen (ROG) zugespielt wurden. ROG hat sie anlässlich des 40-jährigen Bestehens der Islamischen Republik Iran in Paris erstmals veröffentlicht.

"Mithilfe dieser Datei können wir endlich nachweisen, dass das iranische Regime über Jahrzehnte die Weltöffentlichkeit belogen hat. Wir wissen jetzt, dass es hunderte Journalisten und tausende politische Gefangene inhaftiert und viele von ihnen gefoltert und ermordet hat. Über Jahrzehnte hat die iranische Regierung sie auf perfide und unbarmherzige Weise für ihre Überzeugungen oder ihre unabhängige Berichterstattung verfolgt", erklärte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. "Wir werden unsere Erkenntnisse der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet vorlegen, damit der Iran sich für seine Taten verantworten muss."

In der Datei des iranischen Justizministeriums sind alle durch die iranischen Behörden vorgenommenen Festnahmen, Inhaftierungen und Hinrichtungen in der Region Teheran über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten verzeichnet. Sie wurde ROG von Whistleblowern zugespielt, die der Öffentlichkeit ebenso wie den internationalen Institutionen die eklatanten Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land bewusst machen wollen. Die Aufbereitung der Informationen wurde von einem Ausschuss unabhängiger iranischer Menschenrechtsexpertinnen und -experten unter dem Vorsitz der Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi beaufsichtigt.

Insgesamt enthält die Datei rund 1,7 Millionen Einträge über Gerichtsverfahren, von denen Personen aus allen Bereichen der iranischen Gesellschaft betroffen waren: Männer, Frauen und Jugendliche; Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten; Personen, denen nichtpolitische Straftaten vorgeworfen wurden; politische Gefangene, zu denen auch Regimegegner und Journalisten zählen.

ROG hat sich auf den Zeitraum 1979 bis 2009 konzentriert und ist nach monatelangen Auswertungen zu dem Schluss gekommen, dass in diesem Zeitraum mindestens 860 Journalistinnen und Journalisten sowie Bürgerjournalistinnen und Bürgerjournalisten unter den Betroffenen waren. Zu jeder betroffenen Person sind in der Datei Name, Geburtstag, Geburtsort, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Datum des Akteneintrags, Datum der Festnahme, die für die Festnahme verantwortliche Behörde, das zuständige Gericht, die zuständige Staatanwaltschaft, das Datum des Urteils sowie das Strafmaß vermerkt.

Die Berufe der betroffenen Personen werden nicht genannt, insofern taucht das Wort "Journalist" in der Datei nicht auf. Dieser Umstand erleichtert es laut ROG den Behörden, zu behaupten, dass im Iran keine Journalisten bzw. keine politischen Gefangenen inhaftiert sind. Diese Lüge werde "vom iranischen Regime bewusst verbreitet, um Kritik zu entkräften und Menschenrechtsorganisationen zu täuschen", so ROG.

Einige Medienschaffende seien aufgrund fadenscheiniger Vorwürfe wie "Kollaboration mit einem fremden Staat", "Aktivitäten gegen die innere Sicherheit", "Anti-Regierungs-Propaganda" und "Spionage", aber auch "Beleidigung alles Heiligen und des Islam" und "Beleidigung des Obersten Führers" inhaftiert worden, berichtete ROG. Mindestens 57 Journalistinnen und Journalisten seien unter Anklagepunkten dieser Art verzeichnet.

Den meisten betroffenen Medienschaffenden wurden dem ROG-Bericht zufolge Grundrechte verwehrt. Sie wurden in Isolationshaft untergebracht, ihnen wurde der Zugang zu einem Anwalt, der regelmäßige Kontakt zu ihren Familien oder medizinische Versorgung verweigert, einige wurden misshandelt oder gefoltert. Mindestens vier hauptberuflich arbeitende Journalisten wurden zwischen 1979 und 2009 im Iran hingerichtet: Ali Asgar Amirani, Said Soltanpour, Rahman Hatefi-Monfared und Simon Farzami.

Die Datei belege zudem erstmals, so ROG, dass insgesamt 6.048 Personen wegen ihrer Beteiligung an Protesten gegen die Wiederwahl von Mahmud Ahmadinedschad als Staatspräsident im Jahr 2009 festgenommen wurden. Gut 600 Frauen und 5.400 Männer wurden der "Aktivitäten gegen die nationale Sicherheit" beschuldigt. Dieser Vorwurf wurde auch benutzt, um eine Vielzahl von Journalisten und Bürgerjournalisten, die über die Proteste berichteten, zu verhaften und zu verurteilen. Bisher hatte das Regime immer bestritten, Bürger allein für die Beteiligung an Demonstrationen festzunehmen.

Von den 61.940 politischen Gefangenen waren den Akten zufolge mindestens 520 zum Zeitpunkt ihrer Festnahme zwischen 15 und 18 Jahre alt. Die Datei liefert auch Information über die Massaker von 1988, bei denen zwischen Juli und September des Jahres rund 4.000 verurteilte politische Häftlinge auf Anweisung des Obersten Führers Ayatollah Khomeini hingerichtet wurden. Die meisten von ihnen wurden in Gefängnissen in der Region um Teheran getötet und in Massengräbern auf dem Khavaran-Friedhof südlich der Stadt begraben. Das Regime hat diese Massenhinrichtungen immer bestritten. Auf Basis der Datei könne auch erstmals bestätigt werden, dass 5.760 Anhänger der Baha'i-Religion wegen "Mitgliedschaft in einer Sekte" inhaftiert und in einigen Fällen hingerichtet wurden. Auch diese religiöse Verfolgung habe das Regime immer bestritten, so ROG.

Quelle: www.reporter-ohne-grenzen.de