Berlin. - Im Schatten der COVID-19-Krise eskaliert eine Pandemie, die es schon sehr viel länger gibt: geschlechtsspezifische Gewalt. Anrufe bei Hotlines in zehn untersuchten Ländern haben zwischen 25 und 111 Prozent zugenommen, wie ein neuer Oxfam-Bericht zeigt. Zugleich versäumen es Regierungen, dagegen aktiv zu werden oder kürzen gar Finanzmittel für Frauenrechtsorganisationen.
Oxfam fordert entschiedenes Handeln gegen häusliche Gewalt und eine ausreichende Finanzierung von Organisationen, die sich dieser Aufgabe verschrieben haben. Anlass sind die heute beginnenden Aktionstage gegen geschlechtsspezifische Gewalt, die 2021 zum 30. Mal stattfinden.
In der COVID-19-Krise sind viele Haushalte multiplen Belastungen ausgesetzt: soziale, wirtschaftliche und persönliche Sorgen, Stress durch die Doppelbelastung von Arbeit und Kinderbetreuung, soziale Isolation und zunehmender Alkohol- und Drogenkonsum. Häusliche Gewalt nimmt in der Folge zu, wie eine aktuelle Oxfam-Untersuchung in zehn Ländern zeigt: Demnach stieg während des ersten Lockdowns im Jahr 2020 die Anzahl der Anrufe bei Hilfe-Hotlines um 25 bis 111 Prozent. Die größte Zunahme war in Malaysia zu verzeichnen, gefolgt von Kolumbien (79 Prozent), Italien (73 Prozent) und Südafrika (69 Prozent). Doch auch Somalia und China (jeweils 50 Prozent), Tunesien (43 Prozent), Zypern (39 Prozent), Argentinien und Großbritannien (jeweils 25 Prozent) verzeichneten signifikant mehr Anrufe.
Der Bericht zeigt außerdem, dass viele Frauenrechtsorganisationen, deren Aufgabe es ist, Frauen und Mädchen sowie LGBTQIA+-Menschen vor Gewalt zu schützen, von Mittelkürzungen im Zuge der Corona-Krise betroffen sind. In einer im Juni dieses Jahres veröffentlichten Oxfam-Umfrage berichten mehr als 200 Frauenrechtsorganisationen aus 38 Ländern von gekürzten Finanzmitteln und schwindendem Einfluss auf politische Entscheidungen. 33 Prozent mussten zwischen einem und zehn Mitarbeiter*innen kündigen, neun Prozent mussten ganz schließen. Dabei waren schon vor der Pandemie über 245 Millionen Frauen und Mädchen sexualisierter oder körperlicher Gewalt durch einen Intimpartner ausgesetzt – mehr Menschen als sich zuletzt innerhalb von zwölf Monaten (Oktober 2020 – 2021) mit COVID-19 infiziert haben (199 Millionen).
"Es ist ein Skandal, dass Millionen Frauen und Mädchen sowie LGBTQIA+-Menschen eine doppelte Pandemie von Gewalt und COVID-19 erleben. Regierungen haben sträflich dabei versagt, sie zu schützen. Das ist unentschuldbar, millionenfaches Leid und zunehmende Armut sind die Folge. Die Fortschritte, die in den vergangenen 30 Jahren bei der Stärkung von Frauen erzielt wurden, sind in Gefahr. Regierungen müssen jetzt handeln, mit angemessenen Strategien und ausreichender Finanzierung", sagte Sandra Dworack, Expertin für Entwicklungspolitik bei Oxfam Deutschland.
Zwar haben 146 UN-Mitgliedsstaaten in ihren COVID-19-Reaktionsplänen ihre Unterstützung für Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt erklärt, doch nur eine Handvoll hat diese laut Oxfam auch umgesetzt. Von den 26,7 Billionen US-Dollar, die Regierungen und Geber zur Bekämpfung der Pandemie im Jahr 2020 mobilisiert haben, seien nur 0,0002 Prozent in die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt geflossen.
Oxfam fordert von den Regierungen eine koordinierte, umfassende und sektorübergreifende Reaktion auf diese Krise, die den Betroffenen geschlechtsspezifischer Gewalt den Zugang zu qualitativ hochwertigen Unterstützungsangeboten ermöglicht. Regierungen und Geber sollten Frauenrechtsorganisationen und feministische Bewegungen finanziell stärker fördern. Darüber hinaus brauche es mehr Mittel für eine bessere Datenerhebung und -analyse, um evidenzbasierte Interventionen zu ermöglichen.
Quelle: www.oxfam.de