Grafik: BIB/DESA

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Wiesbaden/Berlin. - In den letzten 200 Jahren haben viele Länder im Rahmen des demografischen Übergangs einen Rückgang der Sterblichkeit und ein Absinken der Geburtenraten erlebt. Dies hat auch Auswirkungen auf wirtschaftliche Entwicklungschancen, so das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden. Könnte der Globale Süden jetzt in die Fußstapfen der asiatischen «Tigerstaaten» treten und eine ähnliche «demografische Dividende» erleben? Das BiB hat diese Frage erstmals systematisch anhand von Zahlen der Vereinten Nationen untersucht. Dass eindimensionale Erklärungsversuche für eine gelungene Nachholende Entwicklung zu kurz greifen, zeigt epo.de-Herausgeber Klaus Boldt anhand einiger Anmerkungen zur BiB-Studie.

Das Beispiel der asiatischen »Tigerstaaten« Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan verdeutlicht aus der Sicht des BiB: «Ihr schneller Aufstieg zu wirtschaftlich hoch entwickelten Industrieländern wurde durch eine schnelle Zunahme des Anteils von Personen im erwerbsfähigen Alter in Folge rasch sinkender Geburtenraten begünstigt. Wenn diese Verschiebung in der Altersstruktur nachweislich zu wirtschaftlichem Wachstum beiträgt, wird dieses Wachstum als ‹demografische Dividende› bezeichnet. Es stellt sich die Frage, ob die Entwicklung der Altersstruktur in Ländern des Globalen Südens, welche sich aktuell noch im demografischen Übergang befinden, vergleichbare Potenziale für eine demografische Dividende bietet.»

Das Konzept der demografischen Dividende geht davon aus, dass ein steigender Anteil «wirtschaftlich aktiver Menschen» unter der Gesamtbevölkerung zu ökonomischem Wachstum beiträgt. Die Bedingung dafür sei, »dass dies mit Investitionen in Bildung und Gesundheit, solider Infrastruktur sowie produktiven Beschäftigungsmöglichkeiten einhergeht», erklärte Markus Dörflinger vom BiB. «Entscheidend ist aus demografischer Sicht die Anzahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren in Relation zu Jüngeren und Älteren, die noch nicht bzw. nicht mehr erwerbstätig sind.»

Dieses Verhältnis hat das BiB für 203 Länder berechnet. Das Ergebnis: Bereits 100 Länder haben den maximalen Anteil der Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren überschritten. Diese konzentrierten sich vor allem in Europa und Nordamerika. 103 Ländern aus dem Globalen Süden stehe dies noch bevor. Diese lägen insbesondere in Afrika, Asien und Ozeanien sowie in Süd- und Mittelamerika. In vielen afrikanischen Ländern werde der maximale Anteil der Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren voraussichtlich erst in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhundert erreicht.

Wie Potenziale für eine demografische Dividende entstehen

In welchem Umfang die Verschiebung in der Altersstruktur den Ländern des Globalen Südens letztlich Potenzial für einen ökonomischen Entwicklungsschub bietet, hängt lauf BiB-Studie davon ab, wie schnell, wie hoch und wie lange der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter steigt. Dies werde im Wesentlichen von drei Faktoren bestimmt:

Erstens spielt die Geschwindigkeit des Geburtenrückgangs eine entscheidende Rolle. »Ein schneller Geburtenrückgang führt zu einer raschen und deutlichen Zunahme des Anteils der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Dies hat die hohen demografischen Dividenden in vielen asiatischen Ländern maßgeblich gefördert«, sagt Dörflinger. «Wenn die Geburtenraten, wie beispielsweise in vielen Ländern Sub-Sahara-Afrikas, nur moderat sinken, dann verlangsamt sich auch die relative Zunahme der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter.»

Zweitens kann internationale Migration den Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter beeinflussen. Dies zeige sich beispielsweise in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar, die von hoher Zuwanderung junger Menschen geprägt sind. Gleichzeitig könne eine starke Auswanderung den Anteil von Personen im erwerbsfähigen Alter reduzieren, da häufig junge Erwachsene auswandern.

Drittens stelle «demografische Trägheit» einen wichtigen Faktor dar. «Wenn die Geburtenzahl pro Frau abnimmt, die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter aufgrund der jungen Altersstruktur aber zunächst noch weiter ansteigt, geht die Gesamtzahl der Geburten erst zeitversetzt zurück. Diese demografische Trägheit hat gerade in Sub-Sahara Afrika einen Einfluss darauf, wie schnell der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zunimmt.»

In welchem Umfang weitere Länder des Globalen Südens von demografischen Dividenden profitieren könnten, bleibe abzuwarten, so das BiB: «Die positiven Erfahrungen bestimmter asiatischer Länder sind wahrscheinlich nicht auf alle Länder übertragbar», meint Dörflinger. Umso wichtiger sei es, die Zusammenhänge zwischen Altersstruktur und Geburtenrückgang, Migration und demografischer Trägheit zu verstehen. «Werden diese Faktoren nicht berücksichtigt, könnte das wirtschaftliche Entwicklungspotenzial in Ländern des Globalen Südens falsch eingeschätzt werden.»

=> Altersstruktur und Entwicklungspotenziale: Globale Muster und Einflussfaktoren, Dörflinger, Markus; Loichinger, Elke (2024), in: Bevölkerungsforschung Aktuell 4/2024: 3–8 => Download: PDF, 1MB

Quelle: www.bib.bund.de Pressemitteilung

 

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Anmerkungen der epo.de-Redaktion:

Auch Repression war der «Treiber» des Aufschwungs!

Der wirtschaftliche Aufstieg der «asiatischen Tigerstaaten» kann nicht auf die Demografie allein zurückgeführt werden. Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan «entwickelten» sich insbesondere so rasch aufgrund staatlicher Repression, verbunden mit massiven Einschränkungen von Arbeiter- und Menschenrechten. Wie in Südkorea waren auch anderswo Diktatoren oder Kolonialisten die «Architekten» oder zumindest die Wegbereiter des wirtschaftlichen Aufschwungs. Eine beträchtliche Rolle spielten Entwicklungshilfe-Zahlungen vor allem der USA als Mittel zur Abwehr «kommunistischer» Einflussnahme. Dieses Muster weisen auch später gestartete Tigerstaaten oder sog. «Pantherstaaten» wie Malaysia, Indonesien, Thailand, Vietnam und die Philippinen auf. Zudem haben die Tigerstaaten auch schwere Wirtschaftskrisen durchlebt, und es ist zweifelhaft, ob sie als Vorbild für die wirtschafltliche Entwicklung beispielsweise afrikanischer Staaten taugen. Nicht zu vergessen: Das im Kapitalismus unvermeidliche «Wachstum» stößt an seine planetarischen Grenzen. Aus Tigern könnten sehr bald lahme Enten werden.

Südkoreas «Nachkriegsgeschichte» ist geprägt durch den Koreakrieg (1950–1953), einen der größten Stellvertreterkriege des «Kalten Krieges», der bis zu drei Millionen Tote forderte. Die USA blieben nach dem Waffenstillstand am 27. Juli 1953 die dominierende Macht, sie tolerierten jedoch den Militärputsch am 16. Mai 1961 unter der Führung von General Park Chung-hee. Es herrschten zweitweise bürgerkriegsähnliche Zustände:

«Man ließ in der Folgezeit zwar Wahlen zu, diese blieben aber praktisch folgenlos. Wesentliche demokratische Rechte wie Meinungs- und Pressefreiheit blieben den Südkoreanern versagt. Unter Park Chung-hee entwickelte sich eine Militärdiktatur, Oppositionelle (meist Kommunisten) wurden gefoltert und ermordet. Währenddessen machte Südkorea wesentliche wirtschaftliche Fortschritte. Eine enge Verbindung zwischen Politik und Wirtschaft ließ Großindustrien entstehen. Südkorea wandelte sich in dieser Zeit zu einem modernen, exportorientierten Industriestaat. Dadurch verbesserte sich auch der Lebensstandard der Südkoreaner. Das Bildungswesen wurde verbessert und breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht, die sogenannte Saemaeul Undong (Neues Dorf Kampagne) verbesserte die Lage der Landbevölkerung. Park gilt daher gemeinhin als Architekt des wirtschaftlichen Aufschwungs.» (Wikipedia)

In Taiwan ebnete die Diktatur der Kuomintang den Weg zum wirtschaftlichen Aufschwung. Die von Chiang Kai-shek geführte Staatspartei Kuomintang hatte unter Beibehaltung des Ausnahmezustands eine mehrere Jahrzehnte andauernde Einparteienherrschaft errichtet. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war von hohem Wirtschaftswachstum gekennzeichnet, aber erst Ende der 1980er Jahre erlaubte die Kuomintang eine schrittweise Demokratisierung. Heute ist die Republik China (Taiwan) - wie auch Südkorea - neben Japan einer der demokratischsten Staaten Asiens.

=> Lesetipp: China gegen Taiwan: Was steckt hinter dem Konflikt? (SWR3)

Hongkong wurde während des Ersten Opiumkriegs 1841 vom Vereinigten Königreich besetzt und durch den Vertrag von Nanking 1843 zur britischen Kronkolonie erklärt. Erst 1997 erfolgte die Übergabe der Staatshoheit an die Volksrepublik China, obwohl Großbritannien 1943 der Republik China (Taiwan) zugesagt hatte, alle ungleichen Verträge und Privilegien in den Häfen an der chinesischen Küste aufzugeben. Die Briten brachen ihr Versprechen, den erzwungenen Pachtvertrag nach Kriegsende für ungültig zu erklären. Chiang Kai-shek ließ daraufhin Untergrundkämpfer nach Hongkong einschleusen, die die Stadt nach dem Abzug der Japaner übernehmen sollten. Winston Churchill hatte jedoch bereits ein Flottengeschwader nach China geschickt, das am 30. August 1945 im Hafen von Victoria einlief. Großbritannien stellte damit seine Kontrolle über Hongkong wieder her.

Das zu Beginn der 1950er-Jahre von den USA und seinen Verbündeten gegen die Volksrepublik China verhängte Wirtschaftsembargo hatte auch negative Auswirkungen auf den Handel und Wiederaufbau in Hongkong. Erst nach Aufhebung der Sanktionen erlebte Hongkong einen beispiellosen Boom und entwickelte sich zu einer der stärksten Wirtschaften der Welt. Anfang der 1960er-Jahre wuchs infolge großer sozialer Ungleichheiten erneut Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft. Die Spannungen erreichten ihren Höhepunkt während der Unruhen in Hongkong 1967 mit vielen Toten und Verletzten. (Wikipedia)

Singapur ist das einzige Land in Asien mit einer „AAA“-Bonitätsbewertung aller großen Ratingagenturen. Neben Hongkong ist der Stadtstaat mit 5,7 Millionen Einwohnern der wichtigste Finanzplatz Asiens, eines der reichsten Länder und eine der teuersten Städte weltweit. Seit der Staatsgründung 1959 dominiert die People's Action Party das Land - sie war zeitweilig sogar die einzige Partei im Parlament. International umstritten ist das sehr strenge Rechtssystem des Landes, welches auch Körperstrafen für Ordnungswidrigkeiten vorsieht. Für schwere Verbrechen gilt weiterhin die Todesstrafe.

Nach 1945 wurde Singapur - nach japanischer Besatzung im 2. Weltkrieg - wieder Teil des britischen Kolonialreichs, seit 1959 als selbstregierte Kronkolonie unter der Regierung der People›s Action Party (Lee Kuan Yew). Die Föderation mit Malaysia, Sabah und Sarawak (Borneo) 1962 endete 1964 nach massiven Unruhen zwischen chinesischen und nicht-chinesischen Einwohnern mit dem Ausschluss aus der Föderation.

«Westliche Demokratien betrachten Singapurs Regierungsform manchmal dem Autoritarismus näher als einer Demokratie im westlichen Sinne. Der Bertelsmann Transformation Index 2022 ordnete Singapur den autokratisch regierten Staaten zu, insbesondere aufgrund der Unterdrückung der Opposition. (...) Singapur hat eine sehr erfolgreiche Marktwirtschaft. Die Politik der PAP enthält sozialistische Aspekte, wie zum Beispiel ein großangelegtes öffentliches Wohnraumprogramm und eine Dominanz staatlicher Unternehmen in der lokalen Wirtschaft. Die PAP distanzierte sich in der Vergangenheit teilweise vom westlichen Wertesystem. Der frühere Premierminister Lee Kuan Yew zitierte in diesem Zusammenhang die Inkompatibilitäten westlicher Demokratien mit «asiatischen Werten». In jüngerer Vergangenheit lockerte die PAP Teile ihrer gesellschaftlich konservativen Politik. Als charakteristisch für Singapur gilt das Zusammenspiel aus konfuzianisch orientierter, staatlich-öffentlich kommunizierter Ethik, strengen Gesetzen, einem hohen Grad an Überwachung und sehr geringer Korruption. Verfechter dieser Leitlinien sehen darin die Ursachen, dass eine wohlhabende Gesellschaft entstand, die eine der niedrigsten Kriminalitätsraten der Welt hat. Kritiker bemängeln die autoritären Ausprägungen des singapurischen Staatswesens, beispielsweise die Vorschrift, dass eine staatliche Lizenz verlangt wird, wenn mehr als drei Menschen öffentlich über Politik, Religion oder innere Angelegenheiten des Staates reden wollen.» (Wikipedia)

Klaus Boldt, epo.de 

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Kommentare   

0 #1 Nikolaus Otto 2024-07-30 11:31
Es ist gut, dass die Redaktion noch einige Anmerkungen gemacht hat. So versteht man das Ganz sehr viel besser.
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