Porto Alegre (epo). - Über die sonnengegerbten Gesichtszüge des zierlichen Mestizen huscht ein trauriges Lächeln. "Wenn wir heute zum Gesundheitsposten gehen, wird erwartet, dass wir das Krankenbett und die Arzneien selbst mitbringen," sagt Roberto Collaguazo, ein Kleinbauer aus dem Andenhochland Ecuadors. So jedenfalls erlebe er die Folgen der neoliberalen Reformen in seinem Land. "Man sagt uns immer, der Dollar soll uns Ecuadorianer retten, dabei ist es genau umgekehrt."
Collaguazo nahm an einem der 800 Workshops des Weltsozialforums teil, die der Basisarbeit vorbehalten waren. Zum Thema "Widerstand gegen die Amerikas-Freihandelszone FTAA" hatte das US-Netzwerk "Alliance for Responsible Trade" neben Mitgliedern aus Nordamerika Mexikaner, Ecuadorianer und Puertoricaner eingeladen.
Die Studentin Faline Harshbarger aus Arizona, die Postbeamtin Bonnie Morton von der kanadischen "Nationalen Anti-Armuts-Organisation" und 50 weitere TeilnehmerInnen erzählten sich gegenseitig, wie den Menschen, mit denen sie arbeiten, durch Kürzungen im Sozialbereich der Boden unter den Füssen weggezogen wird.
Nachdem die alleinerziehende Mutter Tara Colin als Jugendliche auf der Straße gelandet war, schloss sie sich der "Kensington Welfare Rights Union" in Philadelphia an. "Bei uns erfrieren die Leute, weil ihnen das Geld fürs Heizöl fehlt," rief sie in den Raum.
Aufklärungs- und Lobbyarbeit auf allen Ebenen seien nötig, um die Umkehrung dieser Politik zu erreichen. In den Arbeitsgruppen stellten alle Teilnehmer ihre Arbeitsweisen vor: So hat die Kanadierin Josephine Gray bei ihrer Bildungsarbeit mit Migranten gute Erfahrungen mit Audiocassetten in mehreren Sprachen gemacht.
"In Porto Alegre kommen wir zu unseren eigenen Bedingungen zusammen," umreißt Gray die Bedeutung des Weltsozialforums. "Wir gehen gestärkt nach Hause zurück, nachdem wir Menschen kennengelernt haben, die ganz ähnliche Kämpfe führen," meint auch der südafrikanische Aktivist Trevor Ngwane, der in Johannesburg gegen die Privatisierung der Stromversorgung arbeitet.
Der 36-jährige Franzose Pierre Johnson, der sich mit solidarischer Ökonomie und alternativer Kommunikation beschäftigt, ist begeistert von der Gastfreundschaft der Portoalegrenser und der professionellen Insfrastruktur: "Ich kann mir kaum idealere Bedingungen für so ein Riesentreffen vorstellen." Untergekommen war er bei zwei Brasilianern, die er im Vorjahr kennengelernt hatte.
Deutsche diesmal stärker vertreten
Auch die deutschen Delegierten, die sich hin und wieder in der Bar des örtlichen Goethe-Instituts trafen, fuhren durchwegs begeistert und voller neuer Anregungen nach Hause. 150 Delegierte aus Deutschland hatten diesmal den Weg nach Porto Alegre gefunden - zwar nur ein Prozent der Gesamtzahl, aber immerhin zehn Mal so viele wie im vergangenen Jahr. "Inspirierende Diskussionen" habe er auf dem Weltsozialforum verfolgt, sagte Sven Giegold, Sprecher des deutschen Attac-Netzwerks. Nun müsse das Engagement "gegen den Neoliberalismus aus der entwicklungspolitischen Ecke in die Mitte der Gesellschaft" getragen werden. "Wir müssen die konkreten Auswirkungen der neoliberalen Politik bei uns thematisieren," sagte er.
In der Innenstadt von Porto Alegre demonstrierten brasilianische und deutsche UmweltschützerInnen gegen den Bau des Siemens-AKWs Angra 3. "Noch immer ist die Möglichkeit nicht vom Tisch, dass dieses Projekt durch Hermesbürgschaften erst ermöglicht wird," so Barbara Happe von der NGO Urgewald.
Die PDS-Bundestagsabgeordnete Ulla Lötzer nahm bereits zum zweiten Mal am Parlamentarierforum teil, in dem wegen der großen Beteiligung französischer Sozialisten über unterschiedliche Einschätzugen des Afghanistan-Kriegs gestritten wurde. Eine große Mehrheit schloss sich schließlich der Resolution an, die den "Krieg gegen den Terror" im Zusammenhang mit der Globalisierungsdebatte sieht. Lötzer sieht Anzeichen dafür, dass sich das neu gegründete Parlamentariernetzwerk als "politisches Subjekt" formiert, das die dringend notwendige Auseindersetzung in die nationalen Parlamenten befruchten könnte.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer präsentierte die brasilianische Ausgabe seines Buchs "Solare Weltwirtschaft". In Deutschland sieht der Umweltpolitiker einen "enormen Nachholbedarf an kritischen Diskussionen". Am Weltsozialforum beeindruckte ihn die "Unbefangenheit und Offenheit", mit der die "vielversprechenden" Debatten geführt worden seien.
Selbst ein Mitglied des CDU-Ausschusses Entwicklungspolitik zeigte Flagge: der pensionierte Unternehmer Peter Hesse, der seit 1983 ein Straßenkinderprojekt in Haiti finanziert. Er war trotz des "Übergewichts der Linken" so vom Weltsozialforum angetan, dass er im kommenden Jahr selbst einen Workshop abhalten möchte. Nur die deutschen Grünen glänzten durch Abwesenheit.
Zahlreich vertreten waren auch kirchliche Organisationen, die in Porto Alegre den "Süd-Süd-Nord" Dialog vorantrieben. Allein zur Delegation des "Evangelischen Entwicklungsdienstes" (EED) gehörten Vertreter aus elf Ländern. Der EED sprach sich ebenso wie die Erlassjahr-Kampagne für einen umfassenden Schuldenerlass und die erstmalige Anwendung eines fairen Insolvenzverfahrens für Argentinien aus. In der Entschuldungsfrage "darf die internationale Gemeinschaft nicht zu zögerlich vorgehen," so EED-Delegationsleiter Wilfried Steen. Am Vorabend der Abschlussfeier erinnerte Claudio Moser von Misereor daran, dass "der Erfolg von Porto Alegre ierst durch die jahrelange Basisarbeit von Millionen Menschen in aller Welt" ermöglicht wurde.
Die langwierige Konsensfindung
Die Toleranz der GlobalisierungskritikerInnen untereinander sei eine richtige Konsequenz aus dem Scheitern der chronisch zerstrittenen Linken im 20. Jahrhundert, diagonistizierte der US-Historiker Immanuel Wallerstein. Doch oft verhinderte sie auch spannende Debatten. In einer hochrangig besetzten Runde marxistischer Akademiker zum Thema "Reflexion über die sozialen Bewegungen" blieben neue Einsichten über das notwendige Umdenken innerhalb der Traditionslinken aus, weil die konkreten Widersprüche der Gegenwart diskret ausgeklammert wurden. Das liege an einem "unausgesprochenen Nichtaggressionspakt," räumte Manuel Monereo von der spanischen "Izquierda Unida" hinterher ein.
Bei aller Einigkeit über die Ablehung der neoliberalen Weltherrschaft wurde klar, wie schwer es ist, die Debatte um positive Gegenentwürfe auf der globalen Ebene zu bündeln. Der philippinische Soziologe Walden Bello hat im Vergelich zum Vorjahr sein Konzept der Deglobalisierung konkretisiert, das von einer radikalen Kritik an IWF, Weltbank und WTO ausgeht. Dieses Dreigestirn bilde die Speerspitze des Neoliberalismus und müsse konsequent bekämpft werden. Zusammenarbeit sei eher mit UNO-Teilorganisationen anzustreben - oder auf der Ebene regionaler Zusammenschlüsse wie der EU oder dem südamerikanischen Mercosur. Grundsätzlich seien Entwicklungsmodelle zu favorisieren, die sich nicht primär am Weltmarkt, sondern an den Bedürfnissen der Bevölkerung in den Ländern des Südens orientieren. Als "Abkoppler" oder "Anti-Globalisierer" möchte sich Bello, der Vorsitzende und Chefstratege des asiatischen NGO-Netzwerks "Focus on the Global South", aber nicht titulieren lassen.
Bello gehört auch zum "Komitee für Alternativen" des "International Forum on Glabalization"(IFG - www.ifg.org), das in wenigen Monaten ein 250-Seiten-Konzept vorlegen will. Auf einem zweitägigen Seminar präsentierten die führenden Köpfe des IFG, darunter Vandana Shiva, Lori Wallach und Martin Khor, die Grundzüge des Konzepts mit dem Ziel, die Macht der multinationalen Konzerne zurückzudrängen - vor allem durch die Stärkung basisdemokratischer Strukturen. Einen eher etatistischen Ansatz vertreten die Neokeynesianer um den französischen Attac-Chef Bernard Cassen.
Auch diesmal haben sich die Organisatoren des Weltsozialforums bewusst gegen eine offizielle Abschlusserklärung ausgesprochen haben. Die Konsensfindung über möglichst konkrete Alternativen ein jahrelanger komplexer Prozess, der nicht in fünf Tagen in Kurzform gepresst werden kann. Deswegen liegt der Schwerpunkt des "Mobilisierungsaufrufs der sozialen Bewegungen" wie schon 2001 auf der radikalen Kritik der neoliberalen Weltordnung. Allen Ungeduldigen, die sich auch diesmal wieder ein stimmiges Gesamtkonzept vom Weltsozialforum erwartet hatten, schrieb Peter Wahl von Attac-Deutschland ins Stammbuch: "Vor allem wir Europäer müssen uns noch erst daran gewöhnen, dass der Kern einer solchen Veranstaltung nicht im Schlussdokument liegt."
Gerhard Dilger, Porto Alegre