New York (epo). - Eine hochrangige Expertengruppe der Vereinten Nationen plädiert für weitreichende Reformen der Weltorganisation, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden zu können. Dazu gehöre auch die Erweiterung des UN-Sicherheitsrates von derzeit 15 auf 24 Mitgliedsstaaten Außerdem werden Umstrukturierungen bei den wichtigsten UN-Organen und den Beziehungen zu regionalen Organisationen vorgeschlagen.
Die Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel (High Level Panel on Threats, Challenges and Change), die im vergangenen Jahr von UN-Generalsekretär Kofi Annan eingesetzt worden war, um Vorschläge zur Stärkung der internationalen Sicherheit vorzulegen, wird ihre Empfehlungen offiziell am 2. Dezember vorstellen. Sie drängt darauf, neue und weit reichende Grundregeln anzunehmen, damit die internationale Gemeinschaft mit neuen Gefahren im 21. Jahrhundert besser umgehen kann und die Vereinten Nationen gestärkt werden.
Der Vorsitzende des Panels, der ehemalige thailändische Premierminister Anand Panyarachun, betonte in New York, der 95-seitige Bericht mit dem Titel "Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung" eine neue Vision für die kollektive Sicherheit vorschlage, die "alle Hauptbedrohungen für den internationalen Frieden und die Sicherheit behandelt".
Die 16 Mitglieder des Panels, das aus ehemaligen Staatschefs, Außenministern sowie Sicherheits-, Militär- und Entwicklungsexperten besteht, betonten das Recht der Staaten auf Selbstverteidigung, einschließlich Präventivschlägen, wenn ein Angriff unmittelbar bevorstehe.
Das Panel kommt auch zu dem Schluss, dass bei "Albtraum-Szenarien", zum Beispiel bei einem möglichen Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch Terroristen, der Sicherheitsrat schneller und pro-aktiver reagieren müsse als in der Vergangenheit.
Die vorgeschlagenen Änderungen gehen nach UN-Auffassung einige der kontroversesten Themen an, zum Beispiel wann der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt ist. Ebenso geht es um sehr komplexe Fragen, etwa wie Armut und Krankheiten am besten bekämpft werden können.
In dem Bericht wird argumentiert, dass im Zeitalter des globalen Handels und des Terrorismus die Bedrohung einer Nation gleichzeitig eine Bedrohung aller Menschen darstelle und dass die Staaten eng zusammenarbeiten müssten, um ihre Sicherheit gewährleisten zu können. Obwohl die Wichtigkeit der kollektiven Sicherheit betont wird, unterstreicht das Panel, dass souveräne Staaten "nach wie vor die wichtigste Funktion bei der Lösung der aktuellen Gefahren besitzen. Allerdings müssen viele Staaten besser gewappnet sein, um ihre Souveränität verantwortungsvoll ausüben zu können."
Als UNO-Generalsekretär Annan vor einem Jahr das Panel einsetzte, sagte er, dass die UNO an einem Scheideweg stehe: Sie könne die Herausforderung meistern und die neuen Gefahren beseitigen oder durch wachsende Uneinigkeit oder unilaterale Bestrebungen weiter geschwächt werden.
UN-Generalsekretär Kofi Annan will die Empfehlungen des Panels für seinen eigenen Bericht berücksichtigen, der im März veröffentlicht wird. Dieser Bericht soll der Vorbereitung eines UNO-Gipfels im September 2005 dienen, an dem alle Staats- und Regierungschefs teilnehmen.
Neben der Bekräftigung des Rechts auf Selbstverteidigung, enthält der Bericht die Idee einer kollektiven Verantwortung, um Zivilisten vor Völkermord, ethnischen Säuberungen und anderen Gewalttaten zu schützen. Diese Verantwortung, heißt es, liege zuerst bei den souveränen Staaten. Wenn diese jedoch nicht fähig oder nicht willens seien, dieser Verantwortung nachzukommen, müsse die internationale Gemeinschaft intervenieren. Sie müsse dann präventiv eingreifen, auf Gewalt reagieren und Wiederaufbauhilfe leisten. Gewalt solle durch Diplomatie vorgebeugt werden, die Menschen sollen durch humanitäre Einsätze geschützt werden. "Gewalt soll nur als letztes Mittel eingesetzt und durch den Sicherheitsrat beschlossen werden."
Der Bericht behandelt auch Punkte, die während oder nach einem Konflikt auftreten können, einschließlich der Kapazitäten, die für die Friedensdurchsetzung, Friedenserhaltung, Friedensschaffung und den Schutz von Zivilisten nötig sind. Die Zahl der verfügbaren Friedenstruppen wird als gefährlich niedrig angesehen. Die Staaten müssten bereitwilliger Truppen zur Verfügung stellen. Vor allem die Industriestaaten müssten mehr tun, um Truppenkontingente bereit zu halten und verstärkt Finanzmittel und Logistik zur Verfügung stellen.
Das Panel drängt auch darauf, ein neues UNO-Organ, eine Kommission zur Friedenskonsolidierung (Peacebuilding Commission), einzurichten, die das Risiko von Gewaltausbrüchen in einzelnen Ländern abschätzen, Präventivmaßnahmen vorschlagen und die Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft in Post-Konflikt-Situationen anführen soll.
Der Bericht enthält zahlreiche Vorschläge zur Konfliktprävention und anderen globalen Bedrohungen. Die Förderung der Entwicklung steht dabei an erster Stelle. Entwicklung, so der Bericht, "hat zahlreiche Funktionen. Sie hilft bei der Bekämpfung von Armut, Krankheiten und Umweltzerstörung, die Millionen von Menschen töten und die menschliche Sicherheit gefährden. Es ist entscheidend, Staaten davor zu bewahren, dass sie ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen können. Entwicklung ist auch Teil einer langfristigen Strategie, um Bürgerkriege zu verhindern sowie dem Terrorismus und organisierter Kriminalität den Nährboden zu entziehen."
Das Panel kritisiert die "schockierend späte und beschämende" globale Antwort auf HIV/Aids und ruft die internationale Gemeinschaft auf, das öffentliche Gesundheitswesen und auch die Seuchenbeobachtung neu zu organisieren - als Abwehrmittel gegen künftige Epidemien, aber auch gegen die Gefahr eines Einsatzes biologischer Waffen durch Terroristen. Betont wird auch "die Lücke zwischen den Versprechen des Kyoto-Protokolls und der gegenwärtigen Situation". Gefordert werden neue Verhandlungen für eine langfristige Strategie zur Bekämpfung der globalen Erderwärmung nach 2012, wenn die Verpflichtungen des Kyoto-Protokolls entfallen.
Der Bericht enthält ferner detaillierte Vorschläge zur Stärkung des Nichtverbreitungsmechanismus von Nuklearwaffen. Ebenso aufgeführt sind Schritte, um die Verbreitung biologischer und chemischer Waffen zu verhindern. Es werden darüber hinaus Elemente für eine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Terrorismus aufgezeigt. Dabei soll der Generalsekretär eine Führungsrolle einnehmen.
Das Panel einigte sich auf eine Definition des Terrorismus. "Das Nichtvorhandensein dieser Definition", so der Bericht, "hat die UNO bisher daran gehindert ihre moralische Autorität auszuüben und eindeutig klarzumachen, dass Terrorismus niemals eine akzeptable Taktik sein kann."
Das Panel kommt zu dem Schluss, dass die UNO "deutlich effektiver bei der Behandlung der Hauptbedrohungen des Friedens und der Sicherheit ist, als allgemein behauptet wird." Dennoch seien einschneidende Veränderungen nötig, "wenn die UNO im 21. Jahrhundert kollektive Sicherheit effektiv und effizient für alle gewährleisten soll". Einer der wichtigsten Vorschläge ist die Erweiterung des Sicherheitsrats von 15 auf 24 Mitglieder. Das Panel schlägt zwei Optionen vor: Im ersten Modell kommen sechs neue ständige Mitglieder ohne Vetorecht hinzu. Das andere Modell sieht zusätzliche Sitze für jeweils vier Jahre vor, die regional vergeben werden sollen, wobei eine Wiederwahl möglich ist.
Außerdem werden Änderungen bei der Generalversammlung, dem Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC), der Menschenrechtskommission und den Beziehungen zwischen der UNO und den regionalen Organisationen vorgeschlagen. Die Rolle des Generalsekretärs im Bereich Frieden und Sicherheit soll gestärkt werden. Um effektiver arbeiten zu können, müsse der Generalsekretär größere Freiheiten bekommen und dafür dann Rechenschaft ablegen.
Die Einführung der Position eines zweiten stellvertretenden Generalsekretärs, der sich auf den Bereich Frieden und Sicherheit konzentrieren und Frühwarn-Berichte und Strategien entwickeln soll, und somit die bisher einzige stellvertretende Generalsekretärin (deren Posten 1996 geschaffen worden war) entlasten soll, "könnte der UNO zu stärkerer Kohärenz im sozialen, wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Bereich verhelfen".
Der Bericht enthält insgesamt 101 Empfehlungen. Neben dem Vorsitzenden hat das Panel folgende Mitglieder: Robert Badinter (Frankreich), Gro Harlem Brundtland (Norwegen), Mary Chinery-Hesse (Ghana), Gareth Evans (Australien), David Hannay (Vereinigtes Königreich), Enrique Iglesias (Uruguay), Amr Moussa (Ägypten), Satish Nambiar (Indien), Sadako Ogata (Japan), Jevgeni M. Primakov (Russische Föderation), Qian Qichen (China), Nafis Sadiq (Pakistan), Salim Ahmed Salim (Tansania), Brent Scowcroft (Vereinigte Staaten von Amerika) und Joao Baena Soares (Brasilien). Professor Stephen Stedman von der Stanford Universität stellte den Bericht zusammen.
Weitere Infos ab 2. Dezember: www.un.org/secureworld