Dr. Doris Fischer. Foto: DIEVon Dr. Doris Fischer

Bonn (epo.de). - Dieser Tage erlebt die chinesische "Reform- und Öffnungspolitik" ihren dreißigsten Geburtstag: Eine Plenumssitzung des 11. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas im Dezember 1978 gilt gemeinhin als Geburtsstunde der Politik, die Chinas rasanten wirtschaftlichen Aufstieg der letzten Jahrzehnte ausgelöst hat. "Diesen 30. Geburtstag hat sich die chinesische Regierung sicherlich anders vorgestellt", schreibt Doris Fischer vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in der "Aktuellen Kolumne".

Zwar werden in diesen Tagen auf allen erdenklichen Regierungs- und Verwaltungsebenen Festakte durchgeführt, die Medien publizieren fleißig zum Thema und in Beijing wurde extra eine Ausstellung eröffnet, doch lockere Feierstimmung will sich angesichts der aktuellen Wirtschaftssituation nicht einstellen. Zu groß erscheinen die gegenwärtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen in Anbetracht der globalen Finanzkrise, zu viele Hiobsbotschaften reihen sich gegenwärtig aneinander: Die Importe sind seit Oktober drastisch zurückgegangen, die Exporte ebenfalls eingebrochen, die Arbeitslosigkeit unter Hochschulabsolventen ist so groß wie nie zuvor, Betriebsschließungen zwingen Millionen Wanderarbeiter zur Rückkehr in ihre Heimatregionen. Entsprechend hat die Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften im Dezember Umfragen veröffentlicht, nach denen in den Städten Arbeitslosigkeit schon wieder als größte Sorge gilt. Und dies alles vor dem Hintergrund der seit Jahren wachsenden Einkommensunterschiede zwischen den Regionen sowie zwischen Stadt und Land.

In dieser Situation bleibt keine Zeit sich auf den Erfolgen der Vergangenheit auszuruhen, vielmehr erzeugt die Beschäftigungssituation – ganz wie vor dreißig Jahren – einen immensen Handlungsdruck. Konkret stellt sich die Frage, wie stabil bzw. wie krisengewappnet die chinesische Wirtschaft und Gesellschaft ist. Oder anders formuliert: Steht China mal wieder am "Scheideweg", kommt jetzt der "Kollaps", den uns einige Experten schon vor ein paar Jahren vorausgesagt haben?

Wir sollten die chinesische Politik nicht unterschätzen, schon gar nicht ihre Fähigkeit zu lernen und sich an neue Situationen anzupassen. Deng Xiaoping hat diese Lernfähigkeit zum strategischen Prinzip der Reformen erhoben, als er davon sprach, dass der Fluss "von Stein zu Stein hüpfend" überquert werden sollte. Aber mehr noch als in diesem Bild zeigt sich die Lernfähigkeit der Politik in den Akzentsetzungen der letzten zwei Jahrzehnte:

Auf die Studentenunruhen des Jahres 1989 hat die chinesische Regierung zwar zunächst mit dem brutalen Durchgreifen auf dem Tian’anmen-Platz reagiert. In den darauf folgenden Jahren hat sie dann entschlossen darauf hingearbeitet, die Situation der Akademiker zu verbessern und sie am wirtschaftlichen Aufstieg Chinas stärker partizipieren zu lassen. Sie sind heute ein tragender Teil der gesellschaftlichen Elite und des "Mittelstandes", der als wichtiger stabilisierender Faktor für die chinesische Gesellschaft dient.
Als sich im Laufe der 1990er Jahre abzeichnete, dass eine Reform der Mehrheit der Staatsunternehmen unrealistisch sein würde, schwenkten die dem Namen nach sozialistische Regierung und die kommunistische Partei dazu über, eine Großzahl der Unternehmen zu schließen bzw. zu privatisieren und das staatliche Eigentum auf eine Auswahl als wichtig angesehener Unternehmen zu konzentrieren.
Auf die wachsenden Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land hat die Regierung schon vor einigen Jahren reagiert, indem die Belastung der ländlichen Bevölkerung mit Steuern und Abgaben drastisch reduziert wurde. Zwar wurden die Unterschiede damit nicht abgebaut, aber das Auseinanderdriften zumindest verlangsamt.
Auf die drängenden Umweltprobleme wurde nicht nur mit besseren Umweltgesetzen reagiert, sondern auch mit dem Versuch, Karrierechancen von Parteikadern an die Erfüllung von umweltpolitischen Zielsetzungen zu koppeln. Von den chinesischen Medien wird heute explizit erwartet, dass sie bei der Aufdeckung von Umweltskandalen helfen.

Diese und viele andere Neuerungen in der chinesischen Wirtschaftspolitik wurden nicht ad hoc angeschoben, sondern meist systematisch und bedacht vorbereitet:

Erstens durch intensives Studium ausländischer Politik. Kaum ein Land dürfte so viele Delegationen ins Ausland schicken, um zu lernen, wie eine bestimmte Politik bzw. bestimmte Gesetze in anderen Ländern konzipiert und umgesetzt werden. Das Gelernte wird dann nicht ungeprüft übernommen, es wird versucht, es an die lokalen Verhältnisse anzupassen.

Zweitens durch gezielte und begrenzte Politikexperimente. Die Sonderwirtschaftszonen, die am Anfang der außenwirtschaftlichen Öffnung Chinas standen, sind nur ein Beispiel dafür. Politikexperimente bereit(et)en aber auch den Weg für Reformen in so unterschiedlichen Bereichen wie Landwirtschaft, Eigentumsordnung, Krankenversicherung, Umweltschutz und Arbeitsmarkt. Das chinesische "Modell" der Wirtschaftspolitik, soweit sich überhaupt von einem Modell sprechen lässt, ist vor allem ein Beispiel der Lernfähigkeit und Experimentierbereitschaft der Politik.

Drittens durch intensive Diskussionen in China. Für jede neue Politik werden die unterschiedlichsten Interessengruppen aufgefordert, ihre Sichtweise der Dinge einzubringen. Diese Diskussionen werden nicht immer, aber zunehmend auch öffentlich ausgetragen (wenn es auch einige Tabus gibt, wie z. B. die Systemfrage). Viele Gesetze werden heute als Entwurf im Internet veröffentlicht mit der Bitte, dass die Öffentlichkeit dazu Stellung nehme. Im Ausland wird diese Diskussionskultur weitgehend übersehen. Sie ist aber wichtiger Bestandteil im politischen Entscheidungsprozess.

Es ist dieser "lernende" Politikstil, der uns nicht vorschnell auf einen möglichen gesellschaftlichen oder politischen Zusammenbruch schließen lassen sollte, trotz der ohne Zweifel auch vor China stehenden wirtschaftlichen Herausforderungen. Zumindest die Erfahrungen der letzten 30 Jahre lassen eher vermuten, dass das chinesische System lernend auf die Krise reagieren wird.

Das schließt Veränderungen im politischen System nicht aus. Interessanterweise wird in China schon seit längerem intensiv über eine notwendige Modernisierung des politischen Systems in China diskutiert. Es sei hier beispielhaft auf den Beitrag eines jungen Soziologen hingewiesen, der auf der Webseite der chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften dieser Tage ein Plädoyer für eine "vierte geistige Befreiung" platziert hat. Nach der Befreiung von der maoistischen Ideologie (1980er Jahre), der Befreiung vom sozialistischen Korsett (Anfang 1990er Jahre) und der Relativierung der Bedeutung von Staatseigentum (Ende der 1990er Jahre) müsse das Ziel der weiteren Reform die Einführung demokratischer(er) Politik sein. Hierzu bedürfe es einer Stärkung der innerparteilichen Demokratie in der KPCh, vertiefter Reformen in der Verwaltung, einer Ausdehnung der basisdemokratischen Prozesse und einer besseren Beschränkung der bzw. Aufsicht über die Ausübung öffentlicher Macht.

Das Jahr 2009 wird ohne Zweifel wirtschaftlich eine Herausforderung für China, aber es könnte auch für den Aufbruch in eine neue Dimension der Reformen stehen!


Die Ökonomin Dr. Doris Fischer arbeitet in der Abteilung II des DIE zu den Themen Innovationssysteme und Nachhaltigkeit sowie Herausforderungen des wirtschaftlichen Aufholprozesses Chinas.

© Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn.

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