"Wann um Himmels Willen ist eure Unabhängigkeit zu Ende?", zitiert Eboussie Boulaga, einer der Autoren von "50 Jahre afrikanische Unabhängigkeit", den legendären "afrikanischen Dorfbewohner". Die Grundstimmung der zwei Dutzend Autoren des Sammelbands, afrikanische Sozialwissenschaftler, politische Aktivisten und Künstler, wird damit auf den Punkt gebracht. Im Rückblick auf das halbe Jahrhundert seit der staatlichen Unabhängigkeit – nicht viel länger als die Kolonialzeit selbst, deren Ausgangspunkt die Berliner Konferenz 1884, also vor 125 Jahren war – schwanken sie zwischen Wut, Verzweiflung und bitterer Ironie über die postkolonialen Verhältnisse in Afrika.

Exemplarisch ist der Eingangsbeitrag des Kameruner Historikers Achille Mbembe, der einige Jahre Geschäftsführer des sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums CODESRIA in Dakar war und derzeit am südafrikanischen "Wits Institute for Social and Economic Research" (WISER) arbeitet. Sein Fazit der "autoritären Restauration" durch "vorgetäuschte Mehrparteiensysteme" und der zu vielen Länder, die neokolonialen "Satrapen" ausgeliefert sind, heißt: fehlendes Denken einer Demokratie, Verlust radikaler Perspektiven, zunehmende Senilität der politischen Führer, Wunsch der Jugend nach Flucht und ein Lumpenradikalismus mit "Gewalt ohne alternatives politisches Projekt". Für Mbembe kann die Zukunft nur wieder geöffnet werden, wenn die kapitalistische "Logik der Extraktion und der Ausraubung" zerschlagen wird.

Einig sind sich die Autoren auch darüber, dass Afrika seine eigenen Konzepte braucht, die nur Afrikaner selbst entwickeln können. Dementsprechend sehen sie die Zukunft Afrikas im Panafrikanismus.

Kum'a Ndumbe III, kamerunischer Prinz, Politikwissenschaft-Professor an der Universität Yaounde I, Dichter und Gründer von Africavenir, geht hinsichtlich der afrikanischen Einigung am weitesten und stellt fest: "Die oberste Priorität eines wirklich unabhängigen Afrika ist eine Afrikanische Union mit föderaler Zentralregierung in Gestalt der Vereinigten Staaten von Afrika, mit stabilen Strukturen regionaler und subregionaler Integration."

Einige der Essays, teilweise im Stil von Interviews, sind Fundgruben über wichtige Aspekte der jüngeren Geschichte und kultureller Bereiche Afrikas. So gibt Ibrahim Thioub, Professor für Zeitgeschichte an der Cheikh Anta Diop Universität in Dakar, Senegal, Einblicke in den Zusammenschluss der afrikanischen Politiker in den französischen Kolonien, die nach der Unabhängigkeit meist an der Spitze ihrer Länder standen, das "Rassemblement Démocratique African" (RDA) und zeigt auf, dass das RDA nicht panafrikanistisch war, weil es den Rahmen des französischen Kolonialismus nicht sprengte. Dementsprechend zerfiel das RDA, als Frankreich auf eine "mikroterritoriale" Unabhängigkeit umschwenkte.  

Mathia Diawara, Filmemacher und Kunsthistoriker, derzeit Leiter des African Studies Department der New York University, beschreibt die Arbeit und Erfolge der "Fédération Panafricaine des Cinéastes" (FEPACI), auf die das jährliche Filmfestival in Bamako (Burkina Faso) und zeitweilig das Filmfestival in Mogadishu (Somalia) zurückgeht. Allerdings gelang es ihr nicht, einen eigenen weltweit wirksamen Filmverleih aufzubauen - ein Grund, warum auch herausragende afrikanische Filme selten in die Programmkinos gelangen.

Saki Mafundikwa, simbabwischer Grafikdesigner und Dozent am Zimbabwe Institute of Vigital Arts, erinnert an den Einfluss der afrikanischen Kunst auf die Moderne, Picasso, Matisse u.a. und formuliert spannende Thesen über Kreativität und Zukunft des afrikanischen Designs. Die afrikanische Farbenlehre, die er vertritt, findet sich im stilvollen Design des Buches wieder.

Eine Rarität ist der "Brief" des Kongolesen Valentin Yves Mudimbe, Professor an der Duke Universität in Durham (USA), an Eric von Grasdorff, einen der Herausgeber des Bands, über die Anfänge und die historische Rolle der Zeitschrift und des gleichnamigen Buchverlags "Présence Africaine". Dort veröffentlichten und debattierten über ein halbes Jahrhundert nicht nur die intellektuelle Elite vor allem des frankophonen Afrikas und der Karibik, sondern auch französische Philosophen und Schriftsteller wie Sartre, Camus und Gide.

Der originellste Beitrag stammt von dem senegalesischen Journalisten Gallo Thiam über den in Berlin mit seinem "Laboratoire Déberlinisation" wohlbekannten senegalesischen Maler und Bildhauer Mansour Ciss und sein "real-utopisches Projekt" "Der Afro". Mit dieser panafrikanischen Kunst-Währung hat Ciss den Nerv des modernen Panafrikanismus getroffen. Möge ihm gegenüber all den Zweiflern an der Idee der afrikanischen Einigung maximale Aufmerksamkeit in Afrika und der ganzen Welt zuteil werden.

Der Kreis wäre nicht geschlossen, würden nicht auch positive Ikonen der afrikanischen Politik zu Wort kommen. Vom kongolesischen Unabhängigkeitsführer, Patrice Lumumba, der schon bald nach der Unabhängigkeit ermordet wurde, werden Auszüge seiner hoffnungsvollen Rede zur Unabhängigkeitsfeier am 30. Juni 1960 gebracht. Thomas Sankara, der jugendliche Präsident von Burkina Faso, der ebenfalls ermordet wurde, fordert in seiner Rede von 1983 vor der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU), dass die Schulden mit den Reparationsansprüchen Afrikas verrechnet werden müssten.

Nelson Mandela wiederum erklärt als frischgewählter Präsident von Südafrika vor dem OAU-Gipfel im Juni 1994 in Tunis voll Optimismus: "Die enormen Anstrengungen, welche Südafrika die Befreiung gebracht und die vollständige Befreiung Afrikas besiegelt haben, ist ein Akt der Erlösung für alle Schwarzen Menschen Afrikas . ... Eine Epoche... ist zu Ende. Nun muss eine andere Epoche beginnen, mit ihren eigenen Herausforderungen. Afrika schreit nach einer Wiedergeburt."

Die Notwendigkeit eines Neuanfangs in Afrika durchzieht alle Beiträge des Buchs. Für Situationen wie bei der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten und beim Ende des Apartheidregimes in Südafrika leuchtet das unmittelbar ein. Aber der Drang nach radikalem Neuanfang ist eine permanente Erscheinung nicht erst zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit, die den Afrikadiskurs generell, ob in Afrika oder in der internationalen Entwicklungsszene, kennzeichnet. Der verständliche Wunsch tendiert zum Hang, die Systemfrage immer wieder möglichst radikal zu stellen. Das behindert den Erkenntniswunsch und versperrt den Blick auf Erfolgsbeispiele, von denen gelernt werden kann, Vorbilder nicht nur in Asien, sondern vor allem in Afrika selbst.

Dieser Mangel trifft die Redaktion des Buchs, die die Beiträge ausgewählt hat, nur in zweiter Linie. In erster Linie ist er dem unter AfrikanerInnen weit verbreiteten Bewusstsein geschuldet. Darin liegt aber auch wieder die Stärke des Buchs, das konsequent afrikanische Stimmen zu Wort kommen lässt und afrikanische Positionen bekannt macht. In vergleichbaren deutschen oder internationalen Publikationen sind Beiträge afrikanischer AutorInnen eine Seltenheit. Die afrikanische Sichtweise wird ausgeklammert und übersehen.

Dieser Marginalisierung afrikanischer Wissenschaftler besonders in der deutschen Politikwissenschaft ist auch Kum'a Ndumbe III zum Opfer gefallen. Jahrelang lehrte er am Otto Suhr Institut der Freien Universität Berlin und vertrat den Inhaber des ersten Lehrstuhls für Afrikapolitik, Franz Ansprenger, als dieser emeritiert wurde, bis dieser Lehrstuhl einfach abgeschafft wurde. Die deutsche Afrika-Politikwissenschaft war unfähig, einen kreativen Afrikawissenschaftler wie Kum'a Ndumbe zu akzeptieren, geschweige denn zu würdigen.

Welche Chancen sie dadurch vergibt, zeigt die Tatsache, dass ehemalige StudentInnen Prof. Ndumbes den deutschen Zweig seiner Kameruner Stiftung AfricAvenir gegründet haben, der einer der aktivsten und vielseitigsten Afrikaorganisationen  in Deutschland ist. Mit beeindruckender Hingabe auch im Detail haben sie den Band ediert und ihn Kum'a Ndumbe gewidmet, zur Würdigung seines Lebenswerks, das sie, wie sie schreiben, "inspiriert, herausfordert, überfordert, umtreibt, bewegt – und Hoffnung macht."    

"50 Jahre afrikanische Unabhängigkeit – eine (selbst-)kritische Bilanz",

Editions AfricAvenir/Exchange & Dialogue, Berlin, 2010, 264 Seiten; Redaktion Judith Strohm und Eric Grasdorff.
ISBN 3-939313-95-5; 978-3-939313-95-3
Preis: 19,00 € zzgl. 1,80 € Porto & Verpackung
Bestellungen: info(at)africavenir.org / Tel.: 030 - 26 93 47 64 / Fax: 032 12 – 12 58 815

Konrad Melchers

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