tesfu tadiosFrankfurt a.M. - In seinem Beruf geht Dr. (rer.nat.) Tadios Tesfu den kleinsten Dingen auf den Grund. Als Diplom-Chemiker gilt seine Leidenschaft der Nanotechnologie. Doch auch in seinem privaten, sehr politischen Leben analysiert der 42-jährige Deutsche mit eritreischen Wurzeln messerscharf. Das Schicksal der Flüchtlinge, die vor der Küste von Lampedusa ertranken, hat ihn aufgewühlt. Und er ist enttäuscht, dass über die politischen Hintergründe des Flüchtlingsdramas in vielen Medien kaum berichtet wurde.

Tadios Tesfu ist selbst ein Flüchtlingskind gewesen. Seine Mutter kam in der ostafrikanischen Heimat bei einem äthiopischen Bombenangriff ums Leben, sein Vater, ein Kämpfer der eritreischen Unabhängigkeitsbewegung ELF, kam als politischer Flüchtling nach Kassel. Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF führte Tadios und seine zwei Geschwister - die elternlosen Kinder waren zwischenzeitlich in ein Flüchtlingslager im Sudan gebracht worden - in Kassel wieder zusammen. Da war Tadios Tesfu 14 Jahre alt.

In Kassel hat Tadios eine Gesamtschule besucht und Abitur gemacht. Es begann eine Bilderbuchkarriere. Er studierte Chemie an der Universität Kassel, promovierte zum Thema "Festkörperelektrochemische Untersuchungen an mikro- und nanostrukturiertem Ag2S und Ag2Se" an der Justus-Liebig-Universität Giessen und arbeitete unter anderem an renommierten wissenschaftlichen Einrichtungen wie dem Leibniz Institut für Polymerforschung in Dresden und am Fraunhofer Institut Dresden. Heute forscht Tesfu im Bereich "Entwicklung von effizienten Beschichtungstechnologien und leistungsfähigen Elektrodenschichten für neuartige MT-PEM-Brennstoffzellen" an einem privatwirtschaftlichen Forschungsinstitut in Frankfurt.

Privat gründete Tadios Tesfu eine Familie und leitete mehr als eineinhalb Jahrzehnte lang ein Jazz-Trio. Er hätte ein angenehmes Leben als anerkannter Wissenschaftler und glücklicher Familienmensch führen und seinen Hobbies nachgehen können: "Jazzgitarre spielen, Songwriting, Kampfsport, Kochen und chemische Experimente zeigen".

Doch es kam anders. 2003 begann sein leben als politischer Organisator. Er gründete die "African Peoples' Association" in Frankfurt am Main und verfolgte die politische Entwicklung in der Heimat seiner Eltern immer genauer. 1993 hatten sich die Eritreer, genauer gesagt die beiden konkurrierenden Befreiungsbewegungen EPLF und ELF, nach 30 Jahren Guerillakrieg die Unabhängigkeit von Äthiopien erkämpft - und Äthiopien hatte das kleine Land in die Freiheit entlassen, obwohl es damit seinen einzigen Zugang zum Roten Meer verlor.

DAS LEBEN DES TADIOS

Warum sich Tadios für ein kleines Land in Ostafrika engagiert, das er in seinem Leben noch nie gesehen hat, fragt ihn der Reporter. - "Weil ich als Kind über Leichen gehen musste", erklärt Dr. Tadios Tesfu. "Ich liebe Deutschland, fast noch mehr als Eritrea. Ich respektiere die Demokratie hier und schätze die Freiheit. Aber ich kann nicht mehr schweigen!"  

Im Leben des Dr. Tadios Tesfu erinnert manches an den Monty Python Film "Das Leben des Brian". In Film sind es die "Judäische Befreiungsfront" und die "Befreiungsfront von Judäa", die sich gegenseitig bekämpfen, statt gemeinsam den römischen Besatzern zuzusetzen. In Tadios' Realität spielen die EPLF, die heute in Eritrea an der Macht ist, und die ELF eine wichtige Rolle. Tadios Vater war ein ELF-Kämpfer, die Familie seiner Partnerin unterstützte schon immer die EPLF, die die ELF nach der Unabhängigkeit ausschaltete.

eritrea lage 248Eritrea, eine altgriechische Bezeichnung für das "Rote Meer", entstand als Kolonie Italiens und wurde 1993 nach 30 Jahren Befreiungskrieg erstmals seit 1961 wieder von Äthiopien unabhängig. Seit 1941 unter britischer Verwaltung, war Eritrea als Provinz ab 1952 föderativ mit Äthiopien verbunden, ehe es 1961 zentralistisch eingegliedert wurde. Heute ist das Land mit rund fünf Millionen Einwohnern eine Republik und wird politisch von der "Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit" beherrscht, die aus der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF) hervorgegangen ist.

Präsident Eritreas ist seit 1993 Isayas Afewerki. Er entwarf das politische Programm der EPLF, die sich 1970 von der Eritreischen Befreiungsfront (ELF) abgespalten hatte. (Seine militärische Ausbildung erhielt Afewerki in der Volksrepublik China.) Er regiert mit seiner Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit, die aus der EPLF hervorgegangen ist, autokratisch und glaubt, dass das in der Aufbauphase einer Nation notwendig ist.

Der Riss zwischen den beiden Befreiungsorganisationen geht mitten durch Tadios Tesfus Familie. Nachdem immer mehr Berichte über Mangelernährung und Armut, willkürliche Verhaftungen und politische Gefangene in Eritrea das Ausland erreichten, engagierte sich Tesfu in der politisch aktiven Diaspora. Heute ist er bundesweiter Vorsitzender des Nationalrates für Demokratischen Wandel in Eritrea (ENC4DC), einem von mehreren oppositionellen Verbänden von Exil-Eritreern.

Viele Eritreer im Ausland stehen dem Regime in Asmara mit Skepsis und Ablehnung gegenüber, können dies aber aus Rücksicht auf ihre Familienangehörigen in der Heimat nicht öffentlich kundtun. Im Welthunger-Index 2013 der Welthungerhilfe rangiert Eritrea auf dem zweitletzten Platz. In der Rangliste der Pressefreiheit 2012 von Reporter ohne Grenzen (ROG) ist Eritrea das Schlusslicht (Platz 179), noch hinter Nordkorea - "Diktaturen, die die Medien vollständig kontrollieren", urteilt ROG.

Amnesty International berichtete, dass Regierungskritiker, Deserteure und Eritreer, die im Ausland um Asyl ersucht haben, inhaftiert werden. Viele internationale Beobachter sehen die Regierung des Landes, das einst Hoffnung für viele nach Unabhängigkeit strebende Regionen und Volksgruppen war, heute als eines der repressivsten und militaristischsten Regime weltweit an. Seit 2011 internationale Sanktionen gegen das Regime verhängt wurden und die Versorgungsprobleme noch größer wurden, wandern immer mehr Eritreer notgedrungen aus. Eritrea ist neben Syrien derzeit die größte Flüchtlingsquelle auf dem Planeten.

Medienberichten zufolge, die Tesfu bestätigt, müssen im Ausland lebende Eritreer eine "Aufbausteuer" an das Regime zahlen - die Rede ist von zwei Prozent ihres Einkommens. Die Abgabe werde von hunderttausenden Auslands-Eritreern erhoben - egal, welche Staatsbürgerschaft sie besitzen - und stelle eine wichtige Geldquelle der eritreischen Regierung dar, so der SPIEGEL. Nach Kritik an den "diplomatischen" Gepflogenheiten der eritreischen Gesandten im Ausland "rate" das Regime den Exil-Eritreern nun, nach Asmara zu reisen und ihren "Solidaritätsbeitrag für den Aufbau Eritreas" abzugeben, berichtet Tesfu.

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Nach der Tragödie von Lampedusa mit rund 350 toten Flüchtlingen - vorwiegend Eritreer, darunter viele Frauen und Kinder - forderte der ENC4DC in einem Offenen Brief an Außenminister Westerwelle (FDP) und Innenminister Friedrich (CSU), die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit der "Militärdiktatur in Eritrea" einzustellen und die toten Eritreer von Lampedusa zum Begräbnis in ihre Heimat zu überführen. Die eritreische Botschaft in Berlin und das eritreische Konsulat in Frankfurt sollten geschlossen werden, verlangt der Verband der oppositionellen Exil-Eritreer darüber hinaus von der Bundesregierung. "Eine Regierung, der das Leben ihres Volkes gleichgültig ist, und die die Rechte ihres Volkes mit Füßen tritt, kann nicht mehr länger der legitime Vertreter ihres Volkes sein!", heißt es in dem Offenen Brief.

Die Schließung von Botschaft und Konsulat wird wohl Wunschdenken bleiben, es sei denn es ist nachweisbar, dass die eritreischen Dienststellen in Deutschland Exilanten dazu zwingen, ihren "Solidaritätsbeitrag" an die eritreische Regierung zu leisten. Das Regime überwacht die eritreische Diaspora und organisiert über die "Jugendbewegung Eritreas" Solidaritäts-Veranstaltungen.

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Im Frankfurter Ostpark gedachten vor einer Woche mehr als 600 Eritreer (und Deutsche wie Tesfu) bei Kerzenlicht der Toten von Lampedusa. Es wird nicht die letzte Mahnwache gewesen sein. Das Sterben von Migranten an den Grenzen der Festung Europa ging schon wenige Tage nach der Tragödie von Lampedusa weiter. Deutschland, das ohne Zuwanderung als Nation gar nicht überleben kann, braucht endlich eine Einwanderungspolitik, die diesen Namen verdient. Dass sich das für die Deutschen UND für die Migranten lohnt, dafür ist der Diplom-Chemiker, Jazz-Musiker und demokratische Aktivist Dr. Tadios Tesfu das beste Beispiel.

Fotos: privat
Der Autor Klaus Boldt ist Gründer und Herausgeber von Entwicklungspolitik Online

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