Bonn (epo). - Anfang 1999 erschien die Studie "Mean Times - Humanitarian Action in Complex Political Emergencies: Stark Choices, Cruel Dilemmas" der Autoren M.Bryans, B.Jones und J.Stein. Die Studie wurde über das Projekt "NGOs in Complex Emergencies" der Universität Toronto herausgegeben. Angesichts der fortbestehenden Komplexität humanitärer Krisen haben die Ideen und Ergebnisse des Berichtes eine weitreichende Bedeutung für internationale Hilfsorganisationen. Mit Genehmigung der Herausgeber wurde die "Executive Summary" dieser immer noch aktuellen Studie von epo-Mitarbeiter G. Brigaldino ins Deutsche übersetzt.

Seit Anfang der 90er Jahre arbeiten NRO mit zunehmender Häufigkeit unter besonders feindseligen Bedingungen. Oft als ?Komplexe Krisen? bezeichnet, umfassen solche mehrdimensionalen humanitäre Krisen zumeist Kombinationen von massiven Bevölkerungsbewegungen, starke Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung, gesamtwirtschaftlichem Zusammenbruch bzw. akute zivile und militärische Konfliktsituation, bishin zum Völkermord. Das Zentrum für internationale Studien der Uni-Toronto in Kanada, untersuchte die komplexen Krisen in

    * Somalia (1992-1993)
    * Ruanda (1994) und
    * Sierra Leone (1996);

Katastrophen, die sich widerspiegelten in Kambodscha, Sudan, Bosnien, Liberien, im Kosovo und in Tschetschenien.

Bereits im Jahre 1995 begann die Arbeit an dem Bericht, zu einer Zeit, da professionelle Nothelfer wenige brauchbare Erklärungen oder Lösungsvorschläge vorfanden für die von komplexen Krisen verursachten Probleme. Die Analytiker konzentrieren und beschränken sich auf technische und operationelle Probleme, oder sie entwickeln theoretische Argumente von geringem praktischen Nutzen. Der multi-disziplinäre Ansatz der Autorengruppe von ?Mean Times? folgte der Erwartung, daß eine detaillierte Betrachtung von komplexen Krisen aus NRO-Sicht neue Erkenntnisse brächten. Es würde auch dazu beitragen, die wichtige Diskussion zu den Handlungsoptionen für humanitäre Arbeit im Allgemeinen und insbesondere der NRO anzuregen.

Die erstellten Fallstudien zeigen, daß, obwohl vieles an aktueller NRO Kritik ungerechtfertigt und zuweilen irrational ist, es dennoch ernsthafte Mängel im Ansatz gibt, für die NRO verantwortlich sind und die sie individuell wie kollektiv beseitigen müssen.

NRO, die in komplexen Krisensituationen arbeiten, bewegen sich in einem Sicherheitsvakuum, verursacht durch ?Privatisierung? der Nothilfe und der fehlenden Bereitschaft staatlicher Akteure sich politisch-militärisch zu engagieren. Ohne solches Engagement verflüchtigt sich der Sicherheitsrahmen, unter dem Konfliktopfer wie humanitäre Helfer exisitieren können. Das zwingende humanitäre Ideal den Ärmsten der Armen zu helfen, auch inmitten von Konflikten, erweist sich als ein nachhaltiges Engagement. Der Bericht konzentriert sich auf die oft perversen und unbeabsichtigten Folgen von humanitärer Hilfe unter Bedingungen massiven Missbrauchs; er befaßt sich auch mit den notwendigen Schritten, um solchen Missbrauch zu registrieren, und infolge dessen, angemessene strategische und politische Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Im Lichte der Realitäten, unter denen sich humanitäre Akteure und bedrohte Bevölkerungen wiederfinden, zeichnet sich ein düsteres Bild der Zukunft ab:

    * es wird weitere komplexe Krisen geben, da die wenigsten vermieden werden können;
    * das Ausgangsdilemma für humanitäre Aktuere ergibt sich aus einem krisenbedingten Sicherheitsvakuum, sowie der fehlenden Bereitschaft international legitimierter Kräfte den Sicherheitsbedarf abzudecken;
    * die internationale Gemeinschaft, in der Form der VN und anderer mulitlateraler Gruppen wie der NATO, der EU oder der OAU, bekunden keine konsequente, verläßliche Bereitschaft die Sicherheitslücke zu schließen oder anderen Akteuren ausreichende Resourcen dafür zur Verfügung zu stellen;
    * humanitäre Organisationen im Allgemeinen und NRO im Besonderen sind an eine Reihe von schwierigen Dilemma gefesselt. Die negativen Nebeneffekte humanitärer Hilfe werden so lange fortbestehen, als betroffene Bevölkerungen wie auch ihre Nothelfer sich Kristensituationen mit bedenklich unzureichender Sicherheit ausgesetzt sehen. Unter diesen Bedingungen kann Krisenhilfe lediglich versuchen so wenig Schaden wie möglich anzurichten.

Der Projektbericht erstellt drei Empfehlungen, um die Probleme dieses neuen humanitären Umfeldes anzupacken. Die Empfehlungen erfolgen im Bewußtsein der oft immensen Schwierigkeiten, unter denen NRO operieren.

Zum Einen: NRO, die zum Fortschritt im Bereich der humanitären Politik beitragen wollen, müssen ihre Kompetenz zur Politikanalyse und Politikformulierung stärken. Das erfordert die Bereitschaft hierin zu investieren, sofern NRO eine ihren Verantwortungen angemessene Stimme in humanitären Fragen haben wollen. Eine Stimme, die sich auch als politisch weitsichtig und ethisch inspiriert erweisen muss.

Zweitens: NRO sollten eine Privatisierung von Sicherheitsdiensten zu humanitären Zwecken in Betracht ziehen. Die Idee einer national unabhängigen, freiwilligen Sicherheitstruppe, die für humanitäre Einsätze bereitsteht, war jedoch nicht Thema der Studie und ist auch ansonsten nur wenig untersucht worden. Dennoch, das Thema ist sicher zur Untersuchung geeignet, zumal sich die Frage stellt, ob angesichts der Privatiserung von Nothilfe nicht auch die Privatiserung von deren Sicherheit angesagt ist. Das Hauptdilemma der humanitären Akteure besteht fort: die Fähigkeit von Marodeuren, sich willkürlich Zivilisten und NRO-Helfer als Opfer auszusuchen, zumal Staaten und die VN immer mehr zögern, erforderliche Sicherheitsmassnahmen zu ergreifen.

Drittens: Um so wenig wie möglich zu schaden, sollten NRO sich ernsthaft die Möglichkeit vorbehalten, sich aus einer Situation teilweise oder vollständig zurückzuziehen. Dazu ist eine neue humanitäre Ethik erforderlich, die NRO dabei hilft zu verstehen, wann ein Rückzug anstelle fortdauender Präsenz geboten ist. NRO müssen Situationen erkennen können, in denen ihre Bereitschaft zum Aussetzen von Hilfe als Kontrollmittel über Nothilfe wirkt. Dadurch kann Präsenz wieder in echten Schutz münden. Gleichwohl kann ein erfolgreich durchgeführter strategischer Rückzug (oder dessen Androhung) ein Zeichen setzen für potentielle Marodeure und Gewalttäter, die erwägen, Nothilfe für sich selbst zweckzuentfremden.

Ob gewollt oder nicht, der humanitäre NRO-Sektor ist inzwischen ein prominenter Faktor im internationalem System, zumal

    * Staaten ihren Anteil an Verantwortung, bilateral oder durch die VN, nicht voll übernehmen;
    * der Bedarf an Nothilfe wahrscheinlich zunehmen wird;
    * humanitäres Verantwortungsbewußtsein, in der Form von NRO, nach wie vor stark ist.

NRO müssen deshalb ein grundsätzliches Verständnis politischer und ökonomischer Umfelder entwickeln und ihre diesbezügliche Kapazitäten aufbauen. Ohne solche Kapazitäten werden NRO unvorbereitet den starken Dilemma entgegen treten, die mit humanitären Aktionen einhergehen. Das wird zu Verlust an Leben führen, zu unnötigen Gefahren und Leid. Der Welt würde eine humanitäre Vision versagt bleiben, der insbesondere durch die NRO-Gemeinde Gestalt und Stimme verliehen werden kann.

Glenn Brigaldino


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