Rio de Janeiro (epo). - Sein Mut machte den schmächtigen Geistlichen zu einem mächtigen Mann. Furchtlos prangerte Dom Helder Camara die Folter von politischen Gegnern während der brasilianischen Militärdiktatur an (1964-1985). Armut war für den herausragenden Befreiungstheologen eine "Beleidigung Gottes, die Menschen zu Tieren herabwürdigt". Er verlangte von seiner Kirche, sich auf die Seite der Armen zu stellen und warnte davor, Religion "als Opium zum Einschläfern des Volkes zu mißbrauchen". In der Nacht zum vergangenen Samstag starb der Alterzbischof von Recife im Alter von 90 Jahren an den Folgen einer Harnweginfektion. Nicht nur in der Metropole des brasilianischen Nordostens, in ganz Brasilien löste der Tod des "Bruders der Armen" Trauer und Nachdenklichkeit aus. Von Astrid Prange
Mit Tränen und Beifall zugleich nahmen Tausende von Gläubigen Abschied von "ihrem" Bischof. Auf ihrem letzten Geleit feierten sie den "Bruder der Armen als ein "Geschenk des Lebens". "Dom Helder Camara wird Brasilien sehr fehlen", erklärte Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso. "Er hat sich sein ganzes Leben lang für Ökumene, Menschenrechte, Frieden und Mitmenschlichkeit eingesetzt." Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac würdigte den Erzbischof als "großen Christen, Menschenrechtler und Humanisten". Der Papst nannte Camara in seiner Trauerbotschaft einen "leidenschaftlichen Pastor" und lobte seine zahlreichen Aktivitäten, zu denen unter anderem die Gründung des Rates der lateinamerikanischen Bischofskonferenzen (Celam) und der brasilianischen Bischofskonferenz im Jahr 1952 gehörten.
"Dom Helder Camara hat uns inspiriert und geführt", erinnert sich Jos? Dirceu, Vorsitzender der brasilianischen Arbeiterpartei PT. "Er hat uns die Garantie gegeben, auf der richtigen Seite zu stehen und uns ethische und moralische Rückendeckung verschafft". Die Worte des ehemaligen Widerstandskämpfers sprechen allen Opfern der brasilianischen Militärdiktatur und ihren Angehörigen aus dem Herzen. Als der kleine, beinahe fragile Mann mit den großen, tief liegenden Augen 1970 im Fußballstadium von Paris vor mehr als 10.000 Zuschauern unter dem Motto "Was auch immer die Konsequenzen sein mögen" die Folter von politischen Gegnern in seiner Heimat denunzierte, riskierte er beinahe selbst sein Leben.
Die glühende Verehrung, die er nicht nur in Brasilien genoß, und seine kompromisslose Aufrichtigkeit bewahrten Camara davor, selbst im Gefängnis zu landen. Zwar ließen ihn die Militärs nach Brasilien zurückkehren, doch Interviews mit der Presse waren ihm seitdem verboten. "Es war, als wäre ich vom Erdboden verschluckt", erinnerte Dom Helder sich anläßlich seines 85jährigen Geburtstages 1994 in einem Interview mit der brasilianischen Zeitung "Jornal do Brasil". "Ein Rundschreiben der Militärregierung an die Presse bestimmte schlicht und ergreifend, daß ich nicht mehr existierte."
Camaras Kampf für mehr irdische Gerechtigkeit begann mit 22 Jahren, als er seine Ausbildung am Priesterseminar in Fortaleza, Hauptstadt des Bundesstaates C?ara im Nordosten Brasiliens, abschloß. In Zusammenarbeit mit Intellektuellen und Arbeitern versuchte der junge Priester, der mit elf Geschwistern aufwuchs, damals, die Botschaft des Evangeliums auch politisch umzusetzen. "Wenn ich den Armen zu Essen gebe, nenne sie mich einen Heiligen", pflegte er zu sagen. "Aber wenn ich frage, warum die Armen nichts zu essen haben, schimpfen sie mich einen Kommunisten."
Die Suche nach einem politischen System, das die krassen Unterschiede zwischen arm und reich aufhebt, trieb den Priester in den dreißiger Jahren sogar in die Arme der Faschisten, in Brasilien "Integralisten" genannt. Doch das Zwischenspiel als deren Bildungssekretär dauerte nur fünf Jahre: "Schon als ich 1936 nach Rio de Janeiro umzog", erinnerte sich Dom Helder Camara vor fünf Jahren in einem Zeitungsinterview, "wurde mir klar, daß die großen Auseinandersetzungen in diesem Jahrhundert sich nicht zwischen Westen und Osten, sondern zwischen Norden und Süden abspielen werden."
Camaras Ansichten, geprägt durch die extreme Armut in seiner Heimat, den brasilianischen Nordosten, brachten nicht nur die brasilianische Obrigkeit, sondern auch den Papst selbst gegen ihn auf. Als "Roter Bischof von Rio" beschimpft, machte er in den 50er Jahren durch die Missionierung von Bewohnern in Rios Elendsvierteln und neue Formen der kirchlichen Sozialarbeit, zu denen der Aufbau von "Basisgemeinden" gehörte, von sich reden. Unmittelbar nach dem brasilianischen Militärputsch am 12. April 1964 übernahm er die strategische Erzdiözese von Recife und Olinda. In den prunkvollen Bischofspalast zog jedoch nicht er, sondern die kirchliche Kommission für Menschenrechte ein. Camara selbt zog es vor, in einem bescheidenen Domizil in der Innenstadt von Recife zu wohnen.
Auf Anweisung des Vatikans mußte er 1985 seinen Posten verlassen. Seitdem lebte Dom Helder Camara zurückgezogen in einem kleinen Haus hinter der Kirche von Olinda. Von der großen Politik hatte er sich schon lange verabschiedet, nicht jedoch von seinem unerschütterlichen Optimismus. "Glücklich sind all diejenigen, die immer tausend Gründe zum Leben haben", lautete einer seiner Lieblingsäußerungen, mit der sich die zahlreichen Gläubigen während der Abschiedsgottesdienste über ihre Trauer hinweg trösteten. Camara war davon überzeugt, daß, daß die Tatsache, daß in Brasilien auch heute noch viele Menschen Hunger leiden, nicht auf "böser Absicht beruht, sondern auf der menschlichen Schwäche, nur innerhalb der Familie das Brot zu teilen." Der Tod des schmächtigen, aber charakterstarken und wortgewaltigen Bischofs aus Brasilien hat die Sehnsucht nach einer Zukunft ohne Hunger und Armut wieder aufleben lassen.