indien gangasagar heiligenstatueBerlin. - 33 Jahre nach seiner ersten größeren Indien-Reise hat der Bonner Agrarwissenschaftler und epo.de-Mitarbeiter Uwe Kerkow den Subkontinent erneut bereist. Er berichtet von einem im wirtschaftlichen und politischen Aufstieg begriffenen Schwellenland, in dem sich vieles drastisch verändert hat, manches aber auch nach drei Jahrzehnten vertraut und unverrückbar erscheint. Entwicklungspolitik Online hat den Fachjournalisten gebeten, seine Eindrücke in einer dreiteiligen Serie niederzuschreiben. Im 1. Teil geht es um die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die den Subkontinent näher an den Rest der Welt rücken, und um die High-Tech-Nation Indien.

Teil 1: Was ist neu, was altbekannt?

Wenn man nach über 30 Jahren nach Indien in dieses riesige, unübersichtliche Land zurückkehrt, scheint Vieles auf den ersten Blick gleich geblieben zu sein: Immer noch wohnen manche Menschen in Zeltverschlägen auf dem Gehsteig und der Tee wird immer noch mit Milch, Zucker, Kardamom und Ingwer zubereitet. Und noch immer versammeln sich dort, wo Tourismus unbekannt ist, manchmal über 20 Leute, um die Fremden zu besichtigen. Besonders spannend ist es offensichtlich, wenn man irgendetwas tut – essen, einkaufen, miteinander oder mit InderInnen sprechen…. Manche ZuschauerInnen tuscheln und kichern auch mehr oder minder offen oder versuchen sich in Späßen. Auch die Bettelei ist nach wie vor endemisch.

JUNGE FRAUEN TRAUEN SICH WAS

Neu ist dagegen, dass manche junge Frauen es wagen, mit dem europäischen Mann Augenkontakt aufzunehmen – früher ein Ding der Unmöglichkeit. Ältere Frauen tun dies nach wie vor nicht. Auch fahren Frauen mittlerweile manchmal Fahrrad, was im Sari überaus ästhetisch anzusehen ist, und manche junge Damen manövrieren einen Roller ebenso lässig wie zügig durch das langsame fließende aber dennoch nicht ungefährliche städtische Verkehrsgewühl. Aber man sieht deutlich weniger Saris im Alltag als vor drei Jahrzehnten und auch kaum noch Männer, die Wickeltücher tragen, geschweige denn halbnackte Brahmanen.

indien facts wp 355Auch Kühe und anderes Viehzeug ist seltener geworden in den Städten – außer vielleicht die Straßenköter, die heute dafür besser genährt sind als früher. Zwar sind die berühmten Enfield-India Motorräder weiterhin in Gebrauch und ein Markenzeichen des indischen Straßenbildes geblieben. Doch in diesem Fall ist alt neu: Was 1980 eine seriöse Alternative für den Familienvater war, der nicht Roller fahren wollte, ist heute meist nur noch Attitüde: Mann fährt eine solche, technisch völlig veraltete und Sprit fressende Kiste vor allem, weil sie cool ist. Enfield baut die Harley Indiens. Es sind sogar Einzelstücke mit aufwendigen Lackierungen inklusive entsprechender Motive auf dem Tank zu finden.

Neu sind auch viele indische Fast-Food Gerichte: Dazu gehören zum Beispiel die tibetischen Momos im Norden Indiens. Das sind recht langweilige Weizennudeln, die die Inder aber mit allem möglichen füllen und gerne auch braten. Und mittlerweile kann man fast überall „parcel“ ordern – sich also den Rest des Essens einpacken lassen oder das Ganze komplett mitnehmen. Neben Sandwiches gibt es jetzt auch „rolls“ als Fastfood: Fladenbrot, das mit Ei angebraten wird und in das dann rohes Gemüse gewickelt wird.

Was sich dagegen kaum geändert hat, sind die Schwierigkeiten in der Zuckerindustrie. Zwar wird heute nicht mehr illegal Zucker exportiert, damit sich bestechliche PolitikerInnen eine goldene Nase damit verdienen können. Dafür setzen jetzt die Besitzer der Zuckerraffinerien die Regierung unter Druck, weil sie angeblich ihre Steuern nicht bezahlen können. Und da Zucker so immens wichtig ist, gibt die Regierung nach und gewährt Steuererleichterungen. Im Gegenzug droht sie aber juristisch gegen Raffineriebetreiber vorzugehen, die sich trotzdem weigern, den Betrieb aufzunehmen.

STABILE PREISE TROTZ INFLATION

Trotz der Querelen um den Zuckerpreis ist der inflationsbereinigte, relative Preis von einem Glas Tee erstaunlich stabil - eher ist Tee noch billiger geworden: 1981 kostete ein (großer) Tee 50 Paisa, also 12,5 Pfennige. Eine Rupie entsprach seinerzeit 25 Pfennigen. Heute sind es zehn Rupies, also etwas mehr als 11,5 Eurocent. Die Rupie ist tendenziell eine schwache Währung, weil in Indien die Nachfrage immer höher als das Angebot ist. Vor allem wegen der Ölrechnungen muss das Land ständige Exportdefizite verkraften.

Seit Sommer 2013 notierte die Rupie bei nur noch etwa 1:85 gegen den Euro, nachdem sie lange bei 1:60 bis 1:70 gependelt hatte. Das liegt vor allem daran, dass die US-Zentralbank im Sommer angedeutet hatte, dass es mit dem superbilligen Geld auch irgendwann wieder vorbei sein könne. Daraufhin sind eine ganze Menge Leute verschreckt aus dem carry trade (billig Geld in der EU oder den USA leihen und deutlich höher verzinst in anderen Ländern anlegen) ausgestiegen und haben auch andere liquide Investitionen aufgelöst und nach Hause geholt. Zudem hat Indien immer noch Schwierigkeiten, ein Wirtschaftswachstum vorzulegen, wie es die Bankster gerne sähen. Man ist da durch China doch sehr verwöhnt. Dass aber die binnenwirtschaftliche Situation für den aktuellen Kursverfall nicht allein ausschlaggebend ist, zeigt sich daran, dass auch der brasilianische Real und die indonesische Rupie im Sommer stark abgewertet haben, obwohl die Wirtschaft in diesen Ländern gut dasteht.

RÜSTUNG, HIGH-TECH, INDUSTRIALISIERUNG

Aber natürlich ist Indien in den letzten Jahrzehnten - trotz immer noch ebenso weit verbreiteter wie bitterer Armut - auch zu einem High-Tech Standort gereift. Damit ist nicht nur die Softwareindustrie gemeint. Der Subkontinent entwickelt eine komplette industrielle Basis und rüstet auch militärisch auf, um seinem Ruf als künftige Supermacht gerecht werden zu können. Und niemand diskutiert hier ernstlich die 73 Mio. US-Dollar, die die indische Marsmisson "Magalyaan" kostet. In Deutschland hatte dieser Betrag ja einiges Gemecker im Blätterwald ausgelöst. Doch wurde man den Eindruck nicht los, dass dabei eine gute Portion Neid auf die bemerkenswerte Ingenieursleistung mitschwingt. Denn Indien hat so gute Leute, dass die ISRO (Indian Space Research Organisation) solch eine Unternehmung zu einem Bruchteil der Kosten abliefert, die normalerweise für Weltraummissionen anfallen.

Zum Vergleich: Die US-Marssonde MAVEN, die ebenfalls Ende 2013 gestartet ist und ebenfalls keine Landung einschließt, wird 485 Mio. Dollar kosten. Hier entsteht eine neue, sehr ernst zu nehmende Konkurrenz auf dem lukrativen Markt für Satellitenstarts. So gesehen, ist das Geld keinesfalls verschwendet, sondern eine strategische Investition in eine Zukunftstechnologie. Man träumt hier schon vom eigenen GPS-System.

Eine viel fragwürdigere Investition ist dagegen der zweite indische Flugzeugträger. Der wurde gerade aus Russland überführt und dieser Tage irgendwo bei Goa in Dienst gestellt. Auch war er mit 2,33 Mrd. Dollar - allein für die Anschaffung; der Betrieb kostet extra – mehr als 30 Mal so teuer wie der Raketenstart.

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„More bang for the buck“, mehr Knaller für die Knete, scheint überhaupt der Wahlspruch der Stunde zu sein. Nachdem die Bauern in West-Bengalen den Riesenkonzern Tata daran gehindert haben, seine Fabrik für den Tata Nano (ein ziemlich schickes Winz-Auto, dass nur 2.000 Euro kostet) im Osten des Subkontinents zu errichten, ist der Milliardär mit dem Projekt in den Bundesstaat Gujarat weiter gezogen. Mittlerweile fahren die ersten Tata Nanos herum und machen den Suzukis und Hyundais Konkurrenz. Um dem ganzen Blech das Fortkommen irgendwie zu ermöglichen, werden auch hier „flyovers“ gebaut. Das sind Straßen in Höhe des vierten, fünften Stocks, die (wie eine Hochbahn) auf Brücken über den Straßen verlaufen. Dort donnert dann der Durchgangsverkehr drüber.

Und was bewegt die Menschen? Besonders wichtig ist den InderInnen derzeit der Kampf gegen die Korruption und die Gleichheit vor dem Gesetz. Mit der weltweit bekannt gewordenen Vergewaltigung in Delhi Ende 2012 hat auch die Frage nach der Rolle der Frau neue Bedeutung bekommen. Übrigens sind die Paragraphen zur sexuellen Belästigung und Vergewaltigung im indischen Strafgesetzbuch gerade überarbeitet worden: Dabei wurden vor allem die Straftatbestände erheblich präzisiert. Die Strafmaße sind dagegen in etwa gleich geblieben, denn die waren vorher schon recht hoch.

Aber nach dem Kastensystem kräht hier kein Hahn. Man findet zwar immer wieder Hinweise auf das Thema - etwa in den Heiratsanzeigen. Ansonsten scheint diese Art der gesellschaftlichen Schichtung bei weitem kein so großes Entwicklungshindernis zu sein, wie gerne behauptet wird. Und im Kapitalismus ist Ungleichheit bekanntlich gerade erwünscht. Zudem gibt es – wie etwa in den USA – affirmative action, Quoten etwa im Bildungssystem für bestimmte Gruppen. Man arbeitet zusammen. Dafür muss man sich nicht gegenseitig einladen oder zusammen essen gehen oder sich heiraten.

Viel schwerwiegendere Entwicklungshemmnisse sind, dass immer noch so viele weibliche Föten abgetrieben und so viele Mädchen minderjährig verheiratet werden. Auch gibt es immer noch viel zu viele Analphabeten. Und die Infrastruktur ächzt an allen Ecken und Enden unter der Last der 1,2 Milliarden Menschen. Natürlich ist auch die Umweltverschmutzung ein Thema, weil sie so heftig geworden ist, dass sie nicht mehr ignoriert werden kann.

Fotos: © Uwe Kerkow; Grafik: Wikipedia

Im zweiten Teil der Reportageserie von Uwe Kerkow, der in einigen Tagen erscheint, geht es um Kolkata (Kalkutta) sowie den Norden und den Süden des Subkontinents (Red.)


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