Berlin. - 33 Jahre nach seiner ersten größeren Indien-Reise hat der Bonner Agrarwissenschaftler und epo.de-Mitarbeiter Uwe Kerkow den Subkontinent erneut bereist. Er berichtet von einem im wirtschaftlichen und politischen Aufstieg begriffenen Schwellenland, in dem sich vieles drastisch verändert hat, manches aber auch nach drei Jahrzehnten vertraut und unverrückbar erscheint. Entwicklungspolitik Online hat den Fachjournalisten gebeten, seine Eindrücke in einer dreiteiligen Serie niederzuschreiben. Im 1. Teil ging es um die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die den Subkontinent näher an den Rest der Welt rücken, und um die High-Tech-Nation Indien. Im 2. Teil besucht er Kolkatta (Kalkutta) mit seinen Tempelanlangen, Parks und kolonialen Überbleibseln. Und er sieht eines der größten Lebewesen auf dem Planeten. Der 3. und letzte Teil behandelt Darjeeling, das Grenzgebiet zu Tibet/China und Gangasagar, einen Wallfahrtsort auf Sagar-Island.
Teil 3 und Schluss: Berge und Täler
DARJEELING – MEHR ALS TEE
Wenn man sich Richtung Norden, Richtung Berge wendet, gelangt man von Kolkata aus zunächst an einen Bahnhof namens New Jalpaiguri. Der Ort liegt aber nicht bei der Stadt Jalpaiguri, sondern ist ein Vorort von Siliguri. Zu sehen gibt es in dieser mindestens 500.000 Einwohner zählenden Bezirkshauptstadt nicht besonders viel. Einen schönen Sikh-Tempel kann man besichtigen, und in einem anderen namens Salugara gibt es einen tibetisch-buddhistischen Tempel, der einen Zwischenstopp wirklich lohnt. Wenn man Glück hat, trifft man extrem nette Mönche. Manche können auch genug Englisch für ein tiefer greifendes Gespräch. Dabei stellte sich heraus, dass auch hier längst nicht jedermann an Gott oder an Götter glaubt. "Aber Meditation ist trotzdem eine sehr gute Sache", wird betont. Dies ist einer der - extrem seltenen - Belege dafür, dass der Buddhismus auch für (jüngere) Asiaten ein atheistisches Angebot enthält und das dies nicht nur eine Kopfgeburt von entsprechend orientierten Europäern oder Nordamerikanern ist.
Teeplantagen in Darjeeling
Von Siliguri aus führt eine Schmalspurbahn nach Darjeeling, die über weite Strecken parallel zur Straße verläuft und die noch mit Dampfloks betrieben wird. Im Mittelstück ist sie jedoch leider nicht mehr funktionstüchtig. Daher ist man auf einen der Jeeps angewiesen, der einen dann über den recht plötzlichen und spektakulären Anstieg in die Ausläufer des Himalaya befördert. Die Stadt Darjeeling liegt etwa 2.200 Meter hoch, erstreckt sich über den weltberühmten Teeplantagen und ist etwa so groß wie Bonn. Hier ist bereits ein deutlicher ostasiatischer Einfluss spürbar. Auf dem Markt werden nepalesische, tibetische und chinesische Produkte verkauft. Zum Beispiel gibt es einen steinharten, aber mild schmeckenden nepalesischen Räucherkäse. Ein wesentlicher Anteil der Bevölkerung wirkt, als sei er eher chinesischen statt indischen Ursprungs. Auch gibt es viele buddhistische Klöster.
Dem Stadtbild fehlen dagegen die Motor- und Fahrradrikschas sowie LKWs. Gefahren werden ausschließlich Jeeps und wenige Privatautos. Der Verkauf von Plastiktüten ist untersagt, und es sind fast keine Bettler zu sehen. Dafür hat es gute Bäcker und Hotelzimmer mit fürstlichem Ausblick Richtung Westen über die Stadt und die umliegenden Berge. Tagsüber bildet sich regelmäßig Steigbewölkung, die langsam immer höher zieht und sich bis nachmittags oft zu einer geschlossenen Wolkendecke auswächst. Die Temperaturen liegen Tags zwischen 15 und 20, Nachts zwischen fünf und zehn Grad. Das kann schon ungemütlich werden, da eigentlich kein Gebäude beheizt ist.
Kleinbahn in Darjeeling
Eine sehenswerte Station ist das Himalaya-Museum (Himalaya Mountaineering Institute), in dem viele Devotionalien aufbewahrt werden. Hier wird besonders auf die indische Geschichte der Himalaya Expeditionen Wert gelegt. Zudem gibt es völkerkundliche Ausstellungsstücke zu den indigenen Bergvölkern und schlechte Modelle des Bergmassivs. Die englische Erstbesteigung des Mt. Everest wird natürlich präsentiert, dabei aber die Leistungen von Sherpa Tensing ins Zentrum der Darstellung gerückt. Immerhin hat der Mann schon zwei Jahre später (1954) die erste indische Mission erfolgreich auf den höchsten Gipfel der Welt geführt. Blinde JapanerInnen, Typen wie Messner und sonstiges Alpinistenvolk, aber auch die vielen Toten kommen dagegen nicht vor. Das Museum ist inmitten eines Zoos gelegen, weshalb man zwangsläufig ein paar Blicke riskiert. Im Vergleich zu den Schrecknissen, die sonst in Entwicklungsländern als Tiergarten gelten, ist der dortige Park ziemlich in Ordnung – natürlich nur, soweit ein Zoo das überhaupt sein kann: Schön grün, alter Baumbestand, große Gehege, zum Teil ohne Zäune. Spaß macht auch die Fahrt mit der Seilbahn, in der man über die Teeplantagen hinwegschaukelt und erst richtig merkt, wie steil die Hänge unterhalb der Stadt tatsächlich sind.
SIKKIM – DIE SCHWEIZ INDIENS
Gangtok, die Hauptstadt von Sikkim, liegt ziemlich genau auf halber Strecke zwischen Kolkata und Lhasa. 55 km nordöstlich passiert die Straße die Grenze nach Tibet/China. Das merkt man auch: Der ostasiatische Einfluss ist noch deutlicher spürbar als in Darjeeling. Es gibt sogar chinesische Stoffe zu kaufen. Bei der Einreise müssen ein paar Grenzformalitäten erledigt werden – so ganz ohne Stempel im Pass kann man nicht in die Schweiz Indiens einreisen. Aber das läuft problemlos ab. Nur Reisende aus China, Myanmar, Pakistan und Nigeria brauchen eine besondere Genehmigung. Die Stadt wirkt auf den ersten Blick ähnlich wie Darjeeling: relativ hohe Häuser (vier- bis siebenstöckig); alle in den Hang geklebt. Treppen verbinden die schmalen Straßen.
Gangtok - Kachenjunga
Ein wesentlicher Unterschied ist: Darjeeling liegt L-förmig auf einem Bergrücken (Sattel), Gangtok am Ende eines Tales beidseitig entlang der Hänge. Und in Gangtok ist es noch ordentlicher als in Darjeeling. Es gibt eine Fußgängerzone, alles ist sehr sauber, die Hauptstraßen verfügen über richtige Bürgersteige. Hupen, Rauchen und Spucken in der Öffentlichkeit sind verboten – der Einsatz von Plastiktüten wird mit bis zu 5.000 Rupies (umgerechnet rund 60 Euro) Strafe geahndet. Gleich ist beiden Städten, dass man sie nur kennenlernen kann, wenn man bereit ist ein paar Treppen zu steigen. Gangtok verfügt sogar über eine ganze Einkaufsstraße, die auf einer breiten Treppe angelegt ist. Der Markt ist hingegen recht unwürdig in einem Gebäude untergebracht, dass eher wirkt, als wäre es als Tiefgarage geplant gewesen. Aufgrund der Steigbewölkung waren die wirklich hohen Berge ab 9:00 Uhr morgens zwar kaum noch auszumachen. Wem Morgenwanderungen dennoch zu stressig sind, der kann von einem entsprechend gelegenen Hotel aus ganz einfach beim Morgenkaffee auf die Berge gucken. Dazu zählt in Sikkim vor allem der Kangchenjunga, der über 8.500 Meter hoch ist.
Sehenswert ist das Enchey-Kloster - eine tibetisch-buddhistische Gründung, die 270 Jahre alt ist. Teile der Gebäude und der Malereien atmen eine entsprechende Stimmung. Alle tibetischen Klöster sind sehr bunt und innen bis zum letzten Zipfel ausgemalt. Wer von dort aus eine ungeführte Wanderung unternehmen will, kann auch ohne besondere Ortskenntnisse über verschiedene Straßen zuerst hoch zum so genannten Ganesh-Tok steigen und von da aus der nördlichen Umgehungsstraße folgen. Alle diese Straßen sind nur wenig befahren. An der Kreuzung, wo die Hauptstraße Richtung Nord-Sikkim abzweigt, lässt sich dann ein Sammeltaxi zurück in die Stadt organisieren.
Die Flora dieser Bergwelt scheint horizontal weniger stratifiziert zu sein als im westlichen Himalaya. Dort wachsen erst Bananen und Reis, weiter oben folgen dann Mais, Äpfel und Hirse, anschließend ein Gürtel aus riesigen Kiefern – die mit den langen, weichen Nadeln – und schließlich Almen und Matten. Der andere Eindruck aus Darjeeling und Sikkim kann aber auch darauf zurückzuführen sein, dass die Berge hier noch nicht so hoch sind (max. 2.500 - 3.000 Meter). Jedenfalls wetteifern hier auf 1.500 Meter Höhe die Baumfarne mit den Bananen um das beste Licht. Der Wald besteht aus immergrünen Bäumen, mit viel Mahagoni dazwischen. Darüber schließt sich eine Art Nebelwald an, in dem nur wenige Kiefern stehen. Vor allem finden sich jedoch Bäume, die unserem Wacholder ähnlich sehen, dabei allerdings viel größer werden. Außerdem gibt es natürlich immergrüne Laubbäume, zum Teil Hartlaubgewächse sowie Bambus in allen möglichen Ausführungen und teils von respektablen Ausmaßen. Sowohl Darjeeling als auch Sikkim waren erfreulich grün. Dem Alter der meisten Bäume nach zu urteilen, wird hier seit etwa 30 Jahren systematisch und mit Erfolg Forstwirtschaft betrieben. Baumriesen waren dagegen keine mehr sichtbar.
Auch das Kloster Rumtek, in dem der Karmapa verehrt wird, ist den Ausflug wert. Es ist eines der wichtigsten Kloster der Tibeter und ein Ort des Widerstandes gegen die "chinesische Besatzung", wie es hier natürlich heißt. Die Inder unterstützten diese Bemühungen, denn sie sind ein Stachel in der Haut des chinesischen Drachen. Schließlich gibt es zwischen Indien und China eine Reihe ungeklärter Grenzfragen; vor allem Ladakh/Leh sowie das Arunachal Pradesh. Verwaltungsmäßig gehört Darjeeling zu West Bengalen, möchte aber ein eigener Bundesstaat werden. Es gibt Überlegungen, den Bezirk zu Sikkim zu schlagen. Kulturell und wirtschaftlich würde das Sinn machen. Ob Delhi die damit verbundene Aufwertung eines nicht zum Hindu-Kernland ("hindu-heartland") gehörigen Bundesstaates wirklich schmeckt, ist jedoch sehr zu bezweifeln.
GANGASAGAR – EIN WALLFAHRTSORT IM GANGESDELTA
Gangasagar ist ein kleines Dorf auf Sagar-Island, der westlichsten vorgelagerten Insel im Ganges-Brahmanputra-Delta. Der Ort ist ein Wallfahrtsort. Tatsächlich wird die etwa 30 Kilometer lange und über zehn Kilometer breite Insel sogar vom Festland aus mit Strom versorgt - ganz offensichtlich, um eben jene jährliche Massenwallfahrt Mitte Januar zu ermöglichen, zu der jedes Mal etwa 500.000 Menschen erwartet werden. Rund einen Monat vorher lagen die riesigen Flächen noch brach, auf denen dann die Pilger campieren und die jetzt nur von Strommasten bewacht werden. Aber die Straßenlaternen entlang der Promenade hinunter zum Strand waren schon in Betrieb und auch die fliegenden Händler, Restaurantbesitzer und sonstigen Gewerbetreibenden knallwach. Überall wird die für die Wallfahrt nötige Infrastruktur wie Stromversorgung, Unterstände für Essstände und Andenkenbuden und kleine Behausungen für die Sadhus errichtet. Diese asketisch lebenden, heiligen Männer sind Anhänger des Shiva, der hier vor allem verehrt wird. Daneben wird - wie in Bengalen üblich – auch in Gangasagar Kali angebetet und Krischna sowieso. Aber es ist Shiva, der 6.600 m hoch auf dem Berg Kailash residiert und es sind seine Haare, denen die Ganga entspringt, die hier ihren langen Weg durch Nordindien in die Bucht von Bengalen beendet.
Bauernhof in Gangasar
Hotels gibt es nicht in Gangasagar, deshalb muss man in einem Ashram übernachten, einem Ort, der eigentlich für PilgerInnen gedacht ist. Es geht primitiv zu und es gelten einige Regeln: Kein Alkohol, kein Tabak, kein Fleisch und kein Sex. Man muss bis 9:30 Uhr aufgestanden sein und sich bis 21:30 Uhr wieder auf dem Gelände eingefunden haben. Da gibt es zum Beispiel das "Bharat Seva Shramsangha", in dem ein 1941 verstorbener Guru verehrt wird, der sich um den materiellen und geistigen Service an vielen wichtigen Wallfahrtsorten Indiens verdient gemacht hat. Wie? Nun, er hat Ashrams gegründet, die nach festen Regeln funktionieren und in denen die Pilger nicht übers Ohr gehauen werden. Denn es gibt - oder gab zumindest - an den Wallfahrtsstätten ganz offensichtlich Tendenzen, den Gläubigen mit ähnlichen Tricks das Geld aus der Tasche zu ziehen, wie es die Ablasshändler früher auch bei uns in Europa gemacht haben.
Das Bharat Seva Shramsangha ist beileibe nicht das einzige Ashram am Ort. Aber es ist ein großes und reiches Haus mit über 150 Räumen, in denen jeweils mindestens vier Menschen schlafen können. Es gibt einen Jeep, einen Generator und der Vorbeter fährt einen schicken kleinen roten Roller. Überall sind Marmorplatten eingelassen, in die die Namen der SpenderInnen verewigt wurden. Und natürlich kommen die Spendengelder fast ausschließlich aus dem 140 Kilometer nördlich gelegenen Kolkata.
Im zweiten Teil der Reportageserie von Uwe Kerkow ging es um Kolkata (Kalkutta) sowie den Norden und den Süden des Subkontinents. Der erste Teil handelte von den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die den Subkontinent näher an den Rest der Welt rücken, und um die High-Tech-Nation Indien. (Red.)
Fotos © Uwe Kerkow
Uwe Kerkow ist freier Journalist und lebt in Bonn.