Bangalore. - Sind Marktlösungen die bessere Alternative, wenn es um die Linderung von Armut und anderer Entwicklungs-Hemmnisse geht? Schon seit einigen Jahren wird versucht, sozialen und ökonomischen Wandel an der "Bottom of the Pyramid" mit Hilfe von unternehmerischen Ansätzen herbeizuführen. Hinter Begriffen wie "Venture Philanthropy", "Impact Investing" oder "Social Entrepreneurship" steckt der Glaube, dass der Markt im Stande sei, auf wesentlich effizientere Weise den Zugang zu wichtigen Gütern und Dienstleistungen für die ärmsten Schichten der Bevölkerung zu ermöglichen, als es die "klassische" Entwicklungshilfe jemals könnte. Ein Erfahrungsbericht von Dr. Martin Vogelsang (Bangalore).
Ist der "Markt" ein besserer Entwicklungsmotor? In den folgenden Wochen möchte ich anhand eines dreijährigen Erfahrungsberichts aus Indien diese These hinterfragen. Soviel sei schon jetzt gesagt: Es gibt dazu kein klares ja oder nein als Antwort. Dazu sind die Fragestellungen - zum Beispiel wenn es um die Bereitstellung öffentlicher Güter wie Ausbildung oder Gesundheitswesen geht - zu komplex und mehrdimensional.
Als ich im September 2010 nach Bangalore kam, lag der Ausbruch der globalen Finanzkrise noch keine zwei Jahre zurück. Für den von aussen kommenden Betrachter war es nur logisch, dass auch die boomende indische Wirtschaft von diesem weltweiten Beben betroffen sein musste. Unter lokalen Beobachtern und Kommentatoren war man sich uneinig: In Zeitungen wie "Mint" oder "Times of India" war viel von Entlassungen und Einstellungsstopps die Rede. Ein anderes Blatt fragte dagegen: "Is the Recession for Real?" Der Autor gab selbst die Antwort, in dem er auf die unverändert hohen privaten Konsumausgaben verwies.
Die Kurse an der Börse von Mumbai hatten sich damals längst wieder von ihren Tiefstständen erholt und die indische Rupie, deren Kurs sich traditionell am US-Dollar orientierte, war stabil. überhaupt schien es, als wäre das indische Bankensystem auf weitaus sichererem Grund gebaut als deren Konkurrenten in den westlichen Industrienationen. Krise? Welche Krise?
Der "Bandra-Worli Sea Link" in Mumbai ist eher die Ausnahme von der Regel: Indiens Infrastruktur ist in einem schlechten Zustand...
Während ich durch die Strassen von Bangalore ging, hatte ich auch nicht den Eindruck, dass der Unternehmergeist der Menchen – ob sie nun der wohlhabenden Mittelklasse oder den ärmeren Bevölkerungsschichten angehörten – in irgendeiner Form erschüttert war. In den Geschäftsstraßen herrschte hektische Betriebsamkeit.
ZWEIFEL AM INDISCHEN MODELL
Dennoch gab es kritische Stimmen, die am "indischen Modell" zweifelten. Ihnen war nicht wohl zumute bei dem Gedanken, dass der vergleichsweise robuste Zustand der indischen Wirtschaft den Glauben in der Bevölkerung an ein Wirtschaftssystem noch steigern würde, das diese Kritiker als zutiefst ungerecht und zerstörerisch betrachteten. In Indien, so sagten sie, sei nie eine wirkliche Debatte über den Kapitalismus geführt worden. Auch fehlten die einflussreichen Mahner, die den Finger auf die offenen Wunden legten. Dabei sei es offensichtlich, wie sich der "Raubtierkapitalismus", der durch grosse Industriekonglomerate wie Reliance oder Adani symbolisiert wurde, längst der Kontrolle durch eine schwache Administration entzogen hatte.
Stichwort "schwache Administration": Was man neben hektischer Betriebsamkeit in den Strassen von Bangalore auch deutlich sehen konnte, war der Zusammenbruch der städtischen Infrastruktur seit den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, als im Zuge der Liberalisierung der indischen Wirtschaft speziell die südindische IT-Metropole mit Höchstgeschwindigkeit den Anschluss an die globalisierte Weltwirtschaft suchte und fand. Politik und Verwaltung, die diese Transformation hätten begleiten sollen, waren auf dramatische Weise an dieser Aufgabe gescheitert.
INVESTOREN ALS MOTOR
"Mit den frühen 90er Jahren begann die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen sich kontinuierlich zu verschlechtern", schreibt der deutsche Geograf Christoph Dittrich in einer Studie mit dem Titel: "Bangalore: Globalisation and Fragmentation in India’s High-Tech Capital". Wir reden hier von Indiens Metropole des IT-Booms. Elektrizität und Wasser waren knapp, die Müllentsorgung im besten Falle unzuverlässig – wenn es sie überhaupt gab und die zuständigen Dienstleister wurden noch nicht einmal zur Verantwortung gezogen. Dass sich hieraus der Nährboden für wachsende Korruption speziell in der öffentlichen Verwaltung entwickelte, muss kaum noch eigens erwähnt werden.
Bangalores rasanter Aufstieg als "IT-Hub" Südasiens liess bei denen, die davon profitierten, in Vergessenheit geraten, dass globale Investoren der Auslöser dieser Entwicklung gewesen waren. Anders lässt sich die geringe Motivation, mehr für die lokale Infrastruktur und die Bekämpfung der Armut zu tun, nicht erklären. Die Drohungen von Seiten der lokalen Unternehmen, Bangalore wieder zu verlassen, wenn sich der desolate Zustand von Strassen, Stromversorgung oder Schulen nicht bald verbesserte, wurden jedenfalls immer lauter.
... genauso wie die Arbeitsbedingungen unter den ärmsten Bevölkerungsschichten. Recycling von Ölkanistern im Slum Dharavi (Mumbai).
In dieser Atmosphäre begann ich meine Arbeit in Bangalore als Direktor von Fem Sustainable Social Solutions (femS3), einer gemeinnützigen GmbH nach indischem Recht. Unsere Aufgabe bestand darin, als Inkubator an Marktlösungen bei der Bekämpfung von Armut zu arbeiten. Überall in Indien gab es diese "Social Enterprises", die sowohl Einkommen als auch sozialen Mehrwert für die Menschen generieren sollten, die sich am unteren Ende der "Wohlstandspyramide" ("Bottom-of-the-Pyramid") befanden.
NGOs ÜBERNEHMEN STAATSAUFGABEN
Uns war klar, dass wir uns in einem Bereich bewegen würden, wo Marktversagen üblich war. In reichen westlichen Ländern sind es entweder lokale, regionale oder staatliche Behörden, die mit ihren Subventionen für das Funktionieren der Gesundheitsversorgung oder der Müllentsorgung nicht nur für die unterprivilegierten Teile der Gesellschaft sorgen. In Indien muss der gemeinnützige – oder NGO-Sektor - einen Teil der Last tragen. Subventionen von Regierungsseite sind zu gering und der private Sektor zögert mit Investitionen in Produktinnovationen bzw. neue Technologien für die ärmsten Bevölkerungschichten, weil diese vermeintlich oder tatsächlich nur über eine geringe Kaufkraft verfügen.
... Die Mobilität wächst schneller als der Ausbau wichtiger Verkehrstrassen: Dichter Verkehr auf der Howrah Bridge in Kolkata (Kalkutta)
Die grundlegenden Veränderungen, von denen es im Folgenden zu erzählen gilt, geschahen mehr oder weniger unterhalb des "Radars" der öffentlichen Wahrnehmung. Für die grossen Schlagzeilen sorgte weiterhin die indische Mainstream-Ökonomie. Doch wurde Indien gleichzeitig immer mehr zu einem Versuchslabor für neue Ansätze bei der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der ärmsten Bevölkerungsschichten. Unter Ökonomen, Investoren, multinationalen Entwicklungsorganisationen, jungen Unternehmern, Beratern und anderen in diesem Bereich involvierten Interessenträgern wuchs die Überzeugung heran, dass der Non-Profit-Sektor zu ineffizient war, um Armutsbekämpfung und sozialen Wandel in dem Ausmass herbeizuführen wie es in Indien notwendig war, wo nach Angaben der Weltbank 2010 noch immer über 300 Millionen Menschen von weniger als zwei US-Dollar pro Tag lebten.
Fotos © Dr. Martin Vogelsang
(2. Teil folgt)
Dr. Martin Vogelsang ist Country Director India
bei Fem Sustainable Social Solutions (femS3).
Er lebt in Bangalore und Berlin.