Armut in Simbabwe. Foto: IRINDie Welthungerhilfe und terre des hommes Deutschland haben am Donnerstag in Berlin - wie in jedem Jahr - ihren gemeinsamen Bericht zur "Wirklichkeit der Entwicklungshilfe" vorgestellt. Die Betonung liegt in diesem Fall auf "wie in jedem Jahr". Denn kein Aufschrei kommt den Geschäftsführern der Hilfswerke über die Lippen, keine Zornesröte steigt in ihr Gesicht, wenn Sie über die Konsequenzen der "Finanzmarktkrise" für die Länder des Südens sprechen. "Business as usual" ist angesagt. Der Verband Entwicklungspolitik hüllt sich in Schweigen. 

Die Zocker an der Wallstreet und anderen Börsenplätzen haben nach Schätzungen der britischen Notenbank fast drei Billionen US-Dollar Vermögen vernichtet. Die deutsche Automobilindustrie, die mit ihren Lobbyisten in Brüssel jahrzehntelang verhindert hat, dass billige, umweltfreundliche, schadstoff- und verbrauchsarme Fahrzeuge auf den Markt kommen, fordert nun erfolgreich 25 Milliarden Euro ein, weil sie die neuen Modelle angeblich sonst nicht entwickeln kann. Der deutsche Bundestag ist in der Lage, innerhalb einer Woche ein 500-Milliarden-Rettungspaket für marode Banken durch die Ausschüsse zu peitschen. Einen Bruchteil der Summe zur Beseitigung des Hungers? Fehlanzeige.

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und die Hilfswerke treten angesichts dieser Entwicklungen die Flucht in die innere Emigration an. Statt die Kräfte zu bündeln und mit aller zur Verfügung stehenden (Lobby-)Macht eine radikale Zeitenwende in der internationalen Finanzarchitektur einzufordern, schaut man mehr oder minder gelassen zu, wie die Spekulanten auf den internationalen Finanzmärkten mit dem Geld des Steuerzahlers wieder aufgepäppelt werden, um ihre nächsten Coups landen zu können.

Seit den 1970er Jahren schreiben Journalisten wie der Autor dieser Zeilen, dass das 0,7-Prozent-Ziel der Vereinten Nationen (0,7% des Bruttonationaleinkommens sollen in die Entwicklungshilfe fliessen) in den meisten Industriestaaten nach wie vor unerfüllt bleibt. "Es fehlt am politischen Willen", sagt die Entwicklungsministerin, "es fehlt am politischen Willen", sagen die Geschäftsführer der Hilfswerke.

An wessen Willen? Eine repräsentative Meinungsumfrage, die Infratest im Auftrag des Verbandes Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) im September durchführte, hatte zum Ergebnis, dass rund drei Viertel der Befragten von der Bundesregierung erwarten, dass sie ihre Zusage einhält, die Ausgaben für Entwicklungshilfe bis zum Jahr 2010 auf 0,51 Prozent zu erhöhen. "Parteien sind also gut beraten, wenn sie diesem Fakt Rechnung tragen", meint die VENRO-Vorstandsvorsitzende Claudia Warning. Die Mehrheit der Deutschen ist bereit, ihre Konsumgewohnheiten umzustellen und fair gehandelte Produkte zu kaufen.
 
Offenbar fehlt es am politischen Willen derjenigen, die Geld und Macht haben oder von Mächtigen abhängen, die Verhältnisse zu ändern. Der US-amerikanische Querdenker Noam Chomsky antwortete unlängst in Spiegel Online auf die Frage, was die republikanische und die demokratische Partei in den USA unterscheide: "Niemand sollte sich Illusionen machen. Die USA sind im Kern ein Einparteiensystem, und diese eine regierende Partei ist die Business-Partei."

Der frühere UN-Sonderbeauftragte für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, hat den Hunger wiederholt als "tägliches Massaker" gebrandmarkt und betont: "Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet." Ein einsamer Rufer in der Wüste? Nur wenige aus den Reihen der Hilfsindustrie trauen sich offenbar, Klartext zu reden.

Dirk Messner, Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE), gehört zu denen, die die historische Tragweite des aktuellen Geschehens einordnen können. Dem Deutschlandradio Kultur sagte er am 28. Oktober, die Finanzkrise werde die Entwicklungsländer mit "großer Wucht" treffen, Hunger und Armut würden zunehmen. Messner:
"Ich glaube, wir müssen jetzt ein bisschen größer denken als in normalen Zeiten, weil wir leben jetzt nicht in normalen Zeiten. Wir sind hoffentlich an dem vollständigen Kollaps des Weltfinanzsystems vorbeigeschrammt. Wir brauchen jetzt aber eine neue Weltwirtschaftsordnung. Das heißt, das institutionelle Gefüge muss umgebaut werden. Wir brauchen eine neue Idee davon, wie der Internationale Währungsfonds in Zukunft aussieht. Wir brauchen eine neue Idee davon, wie wir unser Weltenergiesystem umbauen, damit wir die Klimaproblematik in den Griff bekommen. Ich glaube, mit 'Business as usual' und kleinen Schritten ist es jetzt nicht getan. Es wäre gut, wenn die politischen Entscheidungsträger nun über den Tageshorizont ein wenig hinausdächten und sich eine Vorstellung davon machten, wie die Welt in 2020 aussehen sollte."
In den Ländern des Südens begreift man allmählich, dass all die Rezepte, die Weltbank und Internationaler Währungsfonds ihnen seit den 1970er und -80er Jahren verschrieben haben, nur die Not der Eliten in Nord und Süd linderten, die mit 10 oder 15 Prozent Rendite nicht auskamen. Die Entrüstung darüber wächst, dass das westliche Wirtschafts- und Wertesystem, das die Welt mit Freiheit, Demokratie und Konsumgütern im Überfluss beglücken sollte, nun in denjenigen Teilen der Welt, die am wenigsten zu Treibhausgas-Emissionen und Spekulationsblasen beigetragen haben, 50 Millionen Klimaflüchtlinge und noch mehr Ernährungskrisen produziert.   

Yash Tandon, Exekutivdirektor des South Centre, eines "think tanks" der Entwicklungs- und Schwellenländer, fordert denn auch ein Ende der "Entwicklungshilfe-Abhängigkeit":
“Aid is an instrument of creating poverty not mitigating it. Why? Because it is an added arsenal in the armoury of the industrialised countries to get the developing countries to conform to their policies, and these policies have not been development friendly.”

Back to Top

Wir nutzen ausschließlich technisch notwendige Cookies auf unserer Website.